Was der Hund sah
und geradezu vom Risiko besessen war. Jean-Patrice rief Taleb um drei Uhr morgens aus einem Hotel an oder hielt Sitzungen in Pariser Nachtclubs zwischen Champagnerflaschen und dürftig bekleideten Frauen ab. Einmal fragte er Taleb, was mit seinen Positionen passieren würde, wenn ein Flugzeug in sein Gebäude stürzen würde. Taleb war damals ein junger Mann und wischte solche Fragen beiseite. Er hielt sie für absurd. Doch er stellte bald fest, dass nichts absurd ist.
Taleb zitiert gern David Hume: »Solange wir auch weiße Schwäne beobachten - wir können daraus nicht schließen, dass alle Schwäne weiß sind. Die Beobachtung eines einzigen schwarzen Schwans reicht aus, um diese Schlussfolgerung zu widerlegen.« Da LTCM nie einen russischen schwarzen Schwan gesehen hatte, kam es zu dem Schluss, dass es keine schwarzen Schwäne geben könne. Taleb entwickelte dagegen eine Philosophie, die allein auf der Existenz von schwarzen Schwänen basierte, also darauf, dass ein zufälliges und unerwartetes Ereignis die Märkte erfassen könnte. Daher gibt er keine Optionsscheine aus. Er kauft sie nur. Er kann keine großen Summen verlieren, wenn die GM-Aktie in den Keller geht. Er spekuliert auch nie darauf, dass sich der Markt in der einen oder anderen Richtung entwickelt. Dazu müsste er den Markt verstehen, und das tut er nicht. Ihm fehlt das Selbstvertrauen eines Warren Buffet. Also kauft er Optionen auf beiden Seiten, weil sich der Markt genauso nach oben wie nach unten entwickeln könnte. Er spekuliert auch nicht auf kleinere Schwankungen des Marktes. Wozu auch? Wenn alle die Wahrscheinlichkeit eines seltenen Ereignisses unterschätzen, dann ist eine Option für eine GM- Aktie bei 40 Dollar unterbewertet. Also kauft Taleb bergeweise Aus- dem-Geld-Optionen. Er kauft sie für Hunderte verschiedener Wertpapiere, und wenn sie verfallen, ehe er sie nutzt, dann kauft er eben mehr. Taleb investiert nicht in Aktien, weder für Empirica noch für sich selbst. Anders als der Kauf einer Option ist der Kauf einer Aktie ein Wette darauf, dass die Zukunft genauso ist wie die Gegenwart, nur besser. Aber wer weiß schon, ob das stimmt? Daher legt Taleb sein persönliches Vermögen und die Hunderte Millionen von Dollar von Empirica in amerikanischen Staatsanleihen an. Wenige Finanzmanager der Wall Street haben sich so sehr auf Optionen spezialisiert wie er. Doch wenn die Börse von einem vollkommen unvorhergesehenen Ereignis erfasst wird und die GM-Aktie auf 20 Dollar fällt, dann landet Nassim Taleb nicht in einer schäbigen Wohnung in Athen. Dann ist er ein reicher Mann.
Vor Kurzem nahm Taleb an einem Essen in einem französischen Restaurant ein paar Straßen nördlich der Wall Street teil. Die Gäste waren durchweg Quanten: Männer mit prallen Geldbörsen, offenen Hemden und der leicht abwesenden Art, wie sie Menschen auszeichnet, die in Zahlen träumen. Am Tisch saß ein Schachgroßmeister, ein weißhaariger Mann, der einer von Anatoli Karpows Lehrern gewesen war. Ein anderer hatte im Laufe seiner Karriere an der Stanford University, bei Exxon, in den Labors von Los Alamos, bei Morgan Stanley und in einer exklusiven französischen Investmentbank gearbeitet. Sie unterhielten sich über Mathematik und Schach und machten sich Sorgen um einen Mann, der noch nicht erschienen war, und der nach Auskunft eines der Anwesenden dafür bekannt war, »dass er sich auf dem Weg zur Toilette verläuft«.
Als die Rechnung kam, nahm sie ein Mann an sich, der bei einer großen Bank an der Wall Street als Risikomanager arbeitete; er starrte sie lange an, während sich in seiner Miene eine Mischung aus Verwirrung und Erheiterung spiegelte, so als könne er sich daran nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit einer derart trivialen Rechenaufgabe konfrontiert gewesen war. Die Männer am Tisch kamen aus einer Branche, die vordergründig mathematische Probleme löste, die sich jedoch in Wirklichkeit mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigte, denn beim Kauf einer Option muss sich jeder der Teilnehmer damit auseinandersetzen, was er oder sie wirklich weiß. Taleb kauft Optionen, weil er weiß, dass er im Grunde nichts weiß, oder genauer gesagt, weil andere Leute meinen, mehr zu wissen als sie wirklich wissen. Doch es gab genug Leute am Tisch, die mit Optionen handelten und glaubten, wenn man den Preis einer Option nur richtig festlegte, dann könne man so viele Ein-Dollar-Wetten auf General Motors gewinnen, dass man selbst bei einem Kurs von unter
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