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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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über den Tag hinweg beobachtete, konnte man gut sehen, wie der stetige, tröpfchenweise Verlust an ihm zehrte. Er sah ein bisschen zu oft auf das Bloomberg-Terminal. Er lehnte sich ein bisschen zu häufig vor, um den Tagesverlust zu überprüfen. Er hat eine Reihe abergläubischer Ticks. Wenn es gut läuft, parkt er den Wagen jeden Tag auf demselben Platz; Mahler hört er nicht mehr, weil er Mahler mit der langen Verlustserie des Vorjahres verbindet. »Nassim behauptet immer wieder, dass er mich hier braucht, und das glaube ich ihm sofort«, erzählt Spitznagel. Er soll Taleb daran erinnern, dass sich das Warten auszahlt, und ihm helfen, dem allzu menschlichen Instinkt zu widerstehen, alles hinzuwerfen und den Schmerz des Verlusts zu stillen. »Mark ist mein Aufpasser«, sagt Taleb. Genau wie Pallop: Er soll Taleb daran erinnern, dass Empirica einen intellektuellen Vorsprung hat.
    »Es geht nicht darum, Ideen zu haben, sondern darum, richtig mit den Ideen umzugehen«, meint Taleb. »Wir brauchen keine Moral. Wir brauchen Tricks.« Sein Trick ist ein Protokoll, das vorsieht, was genau in welcher Situation zu tun ist. »Wir haben das Protokoll entwickelt, um den Jungen sagen zu können, hört nicht auf mich, hört auf das Protokoll. Bei dem, was wir hier tun, müssen wir hart gegen uns selbst sein. Die Schwäche, die wir in Niederhoffer sehen, die haben wir auch.« Bei dem Essen der Quanten verschlang Taleb sein Brötchen, und als der Kellner ihm ein neues bringen wollte, warf er sich schützend über seinen Teller und rief: »Nein! Nein!« Es war ein endloser Kampf zwischen Kopf und Herz. Als der Kellner den Wein brachte, hielt er schnell die Hand über sein Glas. Und beim Bestellen orderte er Steak mit Pommes Frites - »aber ohne die Pommes bitte!«. Dann versuchte er sofort, seine Option abzusichern, indem er mit seinem Nachbarn darüber verhandelte, ihm einen Teil seiner Pommes abzutreten.
    In einer Serie von psychologischen Experimenten führt der Psychologe Walter Mischel ein Kind in einen Raum, in dem ein Teller mit zwei Keksen steht, einem kleinen und einem großen. Er sagt dem Kind, wenn es den kleinen Keks wolle, dann müsse es nur mit einer Glocke läuten, und er komme sofort wieder und gebe ihm den Keks. Wenn es den großen Keks haben wolle, müsse es jedoch warten, bis er selbst zurückkomme; das könne irgendwann in den nächsten zwanzig Minuten der Fall sein. Mischel hat Videoaufnahmen von sechsjährigen Kindern, die allein in dem Zimmer sitzen, die Kekse anstarren, und sich zu überreden versuchen, noch zu warten. Ein Mädchen fängt an zu singen. Sie flüstert etwas, das wie eine Anweisungen klingt - sie kann den großen Keks bekommen, wenn sie nur noch ein bisschen wartet. Sie schließt die Augen. Dann schaut sie wieder die Kekse an. Ein Junge baumelt heftig mit den Beinen, nimmt die Glocke in die Hand, schaut sie sich genau an und versucht an alles zu denken, nur nicht an den Keks, den er bekommen kann, wenn er sie läutet. Diese Videos dokumentieren die Anfänge von Disziplin und Selbstbeherrschung, die Techniken, die wir erlernen, um unsere Instinkte zu zügeln. Wenn man dabei zusieht, wie sich diese Kinder verzweifelt ablenken wollen, dann erkennt man mit einem Schrecken: Das ist Nassim Taleb!
    Es gibt jedoch noch eine andere Erklärung für Talebs Entschlossenheit - mehr als die Ticks, die Systeme und die Protokolle der Selbstverleugnung. Es passierte ein Jahr vor seinem Besuch bei Niederhoffer. Taleb hatte als Händler an der Chicagoer Börse gearbeitet und war dort dauernd heiser gewesen. Als er nach New York kam, suchte er einen Arzt auf, der seine Praxis in einem der glamourösen Gebäude der Upper East Side hatte. Taleb saß im Sprechzimmer und besah sich wieder und wieder die Urkunden des Arztes, während er auf die Diagnose wartete. Der Arzt kam zurück und verkündete mit ernster Stimme: »Ich habe den pathologischen Befund. Es ist nicht so schlimm, wie es klingt.« Es war Kehlkopfkrebs. Taleb wurde schwarz vor Augen. Er verließ die Praxis. Draußen regnete es. Er lief ziellos durch die Straßen, bis er schließlich an einer medizinischen Bibliothek vorbeikam. Dort las er hektisch alles, was er über die Krankheit finden konnte, während sich zu seinen Füßen eine Pfütze bildete. Es ergab keinen Sinn. Kehlkopfkrebs bekamen Leute, die ihr Leben lang starke Raucher gewesen waren. Doch Taleb war jung, und er hatte nur selten geraucht. Die Wahrscheinlichkeit, dass er an Kehlkopfkrebs

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