Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
beschrieb die Propagandaanalysten als »die größte Ansammlung von Individualisten, internationalen Vagabunden und leicht übergeschnappten Genies, die je in einer Organisation zusammengebracht wurden«. Diese Leute hatten sehr entschiedene Ansichten über die Wunderwaffe der Nationalsozialisten.
    Erstens prahlte die deutsche Führung vor heimischem Radiopublikum mit der neuen Waffe. Das war ein wichtiger Punkt. Propaganda soll die Moral heben. Wenn die Nationalsozialisten Lügen verbreiteten, dann liefen sie Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen. Als beispielsweise die deutschen U-Boote im Frühjahr 1943 auf immer wirkungsvollere Abwehrmaßnahmen der Alliierten stießen, räumte Propagandaminister Joseph Goebbels die Verluste ein, nur um im nächsten Atemzug erneut den Endsieg zu versprechen und das schlechte Wetter für die Probleme der U-Boote verantwortlich zu machen. In ähnlichen Situationen hatte Goebbels die deutsche Bevölkerung noch nie belogen. Wenn er nun eine vernichtende Wunderwaffe ankündigte, dann bedeutete dies mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die Deutschen über eine vernichtende Wunderwaffe verfügten.
    Von dieser Annahme ausgehend, durchsuchten die Analysten die öffentlichen Verlautbarungen der Nationalsozialisten nach weiteren Hinweisen. Im November kamen sie zu dem Schluss, dass eine solche Waffe »ohne jeden Zweifel« existierte, dass es sich um eine neue Waffe handelte, dass sich diese nicht ohne Weiteres abwehren ließe, dass sie vernichtende Wirkung hatte und dass sie die Zivilbevölkerung, gegen die sie eingesetzt werden sollte, in Angst und Schrecken versetzen würde. Es war außerdem sehr wahrscheinlich, dass die Erprobungsphase im Mai 1943 abgeschlossen war, und dass im August irgendetwas vorgefallen war, was den Einsatz verzögert hatte. Zu diesem Schluss kamen die Analysten, weil die Nationalsozialisten ihre Wunderwaffe im August plötzlich zehn Tage lang nicht mehr erwähnten und ihre Drohungen danach sehr viel vager klangen. Schließlich gingen die Analysten davon aus, dass die Waffe zwischen Mitte Januar und Mitte April einsatzbereit war. Zu diesem Schluss kamen sie, weil die Propaganda Ende 1943 wieder ernster und spezifischer klang, und es unwahrscheinlich war, dass Goebbels Hoffnungen weckte, wenn er nicht in den nächsten Monaten Ergebnisse vorzuweisen hatte. Bei der Wunderwaffe handelte es sich um die legendäre V1-Rakete, und die Vorhersagen der Analysten sollten sich in fast allen Punkten als richtig erweisen.
    Der Politikwissenschaftler Alexander George beschrieb die Enttarnung der V1-Rakete in seinem Buch Propaganda Analysis (1959). Bei der Lektüre des Buchs könnte man meinen, es beschreibe die Gegenwart. Die Spione kämpften noch immer einen Krieg des 19. Jahrhunderts. Die Analysten gehörten dagegen in unsere Zeit, und aus ihrem Erfolg können wir lernen, dass wir den Ungewissheiten, mit denen uns die moderne Welt konfrontiert, am ehesten mit dem Paradigma des Geheimnisses begegnen.
    Die Diagnose des Prostatakrebses wurde beispielsweise lange Zeit wie ein Rätsel angegangen: Der Arzt nahm eine Rektaluntersuchung vor und fühlte, ob an der Prostata des Patienten ein Tumor saß. Heutzutage warten wir allerdings nicht mehr darauf, dass Patienten Symptome von Prostatakrebs zeigen. Ärzte untersuchen Männer in mittlerem Alter inzwischen regelmäßig auf erhöhte Werte des prostataspezifischen Antigens PSA, da diese Substanz mit Prozessen in der Prostata in Zusammenhang steht; sind die Ergebnisse auffällig, fertigen sie eine Ultraschallaufnahme der Prostata an. Dann nehmen sie eine Biopsie vor, das heißt, sie entnehmen der Drüse eine Gewebeprobe und untersuchen sie unter einem Mikroskop.
    Diese Informationsflut lässt nicht unbedingt sichere Schlüsse zu: Erhöhte PSA-Werte lassen nicht immer auf Krebs schließen, und normale PSA-Werte deuten nicht immer auf eine gesunde Prostata hin - ganz abgesehen davon, dass sich die Experten darüber streiten, was ein normaler PSA-Wert ist. Auch die Biopsie liefert keine eindeutigen Ergebnisse: Die Pathologen suchen nach frühen Hinweisen auf das Vorhandensein von Krebs oder auch nur von etwas, das sich im weiteren Verlauf zu einem Tumor entwickeln könnte, weshalb zwei gleichermaßen erfahrene Pathologen dieselbe Probe analysieren und zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen können. Selbst wenn sie übereinstimmen, könnten sie die Notwendigkeit einer Behandlung unterschiedlich einschätzen, da der Prostatakrebs so

Weitere Kostenlose Bücher