Was der Hund sah
Gewinne erzielen, als tatsächlich der Fall war. Doch das Finanzamt interessiert sich nicht für derartige buchhalterische Tricks: Unternehmen versteuern nur die Gewinne, die sie tatsächlich erzielen. Aus Sicht der Finanzbehörden waren die fantastisch komplizierten Manöver mit den Zweckgesellschaften vollkommen uninteressant: Ehe ein Partnerunternehmen eine Anlage nicht veräußert und damit einen Gewinn oder Verlust erzielt hat, ist eine Zweckgesellschaft nichts anderes als eine buchhalterische Fiktion. Enron bezahlte keine Steuern, weil es in den Augen des Finanzamts keine Gewinne erwirtschaftete.
Aus der Sicht von Enrons Steuererklärung ergab sich ein ganz anderes Bild des Unternehmens als aus der traditionelleren Sicht seiner Bilanzen. Doch dazu muss man Steuererklärungen verstehen, deren Gepflogenheiten und Kniffe kennen und wissen, welche Fragen man zu stellen hat. »Der Unterschied zwischen den in der Bilanz ausgewiesenen und den zu versteuernden Gewinnen war leicht zu erkennen«, schreibt Fleischer, nicht aber die Gründe für diesen Unterschied. »Die Interpretation der Steuerbilanz erfordert Spezialkenntnisse.«
Woordward und Bernstein verfügten über keinerlei Spezialkenntnisse. Zur Zeit des Watergate-Skandals waren sie Mitte zwanzig. In Die Watergate-Affäre machen sie sich über ihre eigene Unerfahrenheit lustig: Woodwards Expertentum beschränkte sich auf Büroklatsch, und Bernstein war ein Studienabbrecher. Aber das spielte keine Rolle, denn Vertuschungen, Maulwürfe, geheime Tonbandaufzeichnungen und Dokumente - die entscheidenden Zutaten eines Rätsels - erfordern in erster Linie Energie und Hartnäckigkeit, beides Tugenden der Jugend. Geheimnisse dagegen verlangen Erfahrung und Wissen. Woodward und Bernstein wären nie in der Lage gewesen, die Geschichte des Enron-Skandals zu schreiben.
»In der Unternehmensgeschichte gab es Skandale, in denen Manager Zahlen frei erfunden haben, aber Enron war keine derart kriminelle Operation«, erklärt Macey. »Meiner Ansicht nach hat Enron die Bilanzgesetze vielleicht etwas zu großzügig ausgelegt. Diese Art von Finanzbetrug, bei dem die Beteiligten die Wahrheit einfach ein bisschen zu ihren Gunsten interpretieren, fällt in einen Bereich, den Analysten und Händler überwachen sollten. Enron hat niemandem die Wahrheit vorenthalten. Aber man musste sich die Bilanzen sehr genau anschauen. Es ist so, als hätten sie gesagt: ›In Fußnote 42 stehen ein paar richtig schmutzige Sachen, und wenn Sie mehr darüber wissen wollen, dann fragen Sie uns.‹ Aber das ist es ja. Es hat niemand nachgefragt.«
Alexander George analysierte in seiner Geschichte der Propagandaauswertung Hunderte von Schlussfolgerungen, die amerikanische Analysten über die Nationalsozialisten trafen, und stellte fest, dass sie zu 81 Prozent zutrafen. George beschäftigt sich jedoch ebenso sehr mit dem Scheitern der Analysten wie mit ihren Erfolgen. Die Briten leisteten beispielsweise weit bessere Arbeit bei der Suche nach der deutschen Wunderwaffe. Systematisch nahmen sie die »Häufigkeit und Intensität« der nationalsozialistischen Vergeltungsdrohungen unter die Lupe und erkannten so, dass das Waffenprogramm im August 1943 einen Rückschlag erlitten haben musste (rückblickend stellte sich heraus, dass ein alliierter Luftangriff schweren Schaden angerichtet hatte), und wann die Waffe erstmals zum Einsatz kommen würde.
Die Leistung der Analysten an der Washingtoner K Street war dagegen vergleichsweise glanzlos. George schreibt, den Amerikanern »fehlten ausreichend weit entwickelte Methoden der Analyse und Hypothesenbildung«; stattdessen verließen sie sich auf punktuelle Analysen. George war selbst einer der Spinner der K Street, und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seine früheren Kollegen in Schutz zu nehmen. Schließlich saßen sie tagaus, tagein an ihren Schreibtischen. Sie beschäftigten sich ausschließlich mit Propaganda, und ihre Hauptquelle war Goebbels, ein Lügner und Dieb. Doch das ist die Rätseldenke.
Im Falle eines Rätsels schicken wir den Übeltäter, im Enron-Fall den Vorstandsvorsitzenden, für 24 Jahre hinter Gitter und nehmen an, dass unsere Arbeit damit getan ist. Geheimnisse verlangen dagegen, dass wir die Liste der Schuldigen ein weiteres Mal durchgehen und bereit sind, die Schuld auf mehrere Schultern zu verteilen. Denn wenn wir im Falle eines Geheimnisses die Wahrheit nicht aufdecken - selbst wenn sich das Geheimnis hinter Propaganda verbirgt -, dann
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