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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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langsam wächst, dass er kaum Probleme verursacht.
    Der Urologe steht nun vor der Herausforderung, im Gewirr von unsicheren und widersprüchlichen Informationen eine Diagnose zu treffen. Seine Aufgabe besteht nicht mehr darin, das Vorhandensein eines Tumors zu bestätigen. Er muss ihn vorhersehen. Er hat nicht mehr mit Gewissheiten zu tun, wie seine Kollegen in der Vergangenheit, sondern mit »hochgradig wahrscheinlichen« Ereignissen. Im Falle des Prostatakrebses und vieler anderer Krebsarten hat der medizinische Fortschritt zur Folge, dass die Diagnose kein Rätsel mehr ist, sondern ein Geheimnis.
    Dieselbe Entwicklung lässt sich in der Welt der Geheimdienste beobachten. Während des Kalten Krieges war unser Verhältnis zum Ostblock im Großen und Ganzen stabil und berechenbar. Was wir nicht kannten, waren die Details. Wie Gregory Treverton, früherer stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Geheimdienstrates in seinem Buch Reshaping National Intelligence for an Age of Information (Reform der Geheimdienste für das Informationszeitalter) schreibt:
    Damals handelte es sich bei den drängenden Fragen, mit denen sich die Geheimdienste beschäftigten, um Rätsel, die ein für alle Mal hätten beantwortet werden können, wenn man nur die fehlenden Informationen gehabt hätte: Wie stark war die Wirtschaft der Sowjetunion? Wie viel Raketen hatte die Sowjetunion? Hatte sie einen Angriff aus heiterem Himmel gestartet? Rätsel wie diese waren während des Kalten Krieges das tägliche Brot der Geheimdienste.
    Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stehen die Geheimdienste nach Ansicht von Treverton und anderen vor einem genau entgegengesetzten Problem. Der größte Teil der Welt ist heute frei zugänglich. Die Geheimdienste sind nicht mehr auf die Häppchen ihrer Spionen angewiesen. Sie werden mit Information überflutet. Die Lösung von Rätseln ist nach wie vor eine entscheidende Aufgabe, denn wir wollen immer noch wissen, wo sich Osama bin Laden aufhält und wo Nordkorea seine Nuklearwaffen stationiert hat. Doch Geheimnisse rücken immer weiter ins Zentrum des Geschehens. Die stabile und berechenbare Aufteilung der Welt in Ost und West gehört der Vergangenheit an. Die Aufgabe der Analysten besteht nun darin, Politikern beim Umgang mit dem Chaos zu helfen. In einer Anhörung vor dem Kongress wurde Admiral Bobby R. Inman gefragt, welche Maßnahmen seiner Ansicht zu einer Verbesserung der Geheimdienstaktivitäten der Vereinigten Staaten beitragen könnten. Inman war Chef der Nationalen Sicherheitsbehörde und stellvertretender CIA-Direktor gewesen. Er verkörperte die Geheimdienststrukturen des Kalten Krieges. Seine Antwort lautete: Durch eine Stärkung des Außenministeriums, des einzigen Bereichs der Außenpolitik, der nicht in der Informationsbeschaffung tätig ist. In der Welt nach dem Kalten Krieg, in der »sämtliche Informationen zur Verfügung stehen«, so Inman, »benötigen wir Beobachter mit sprachlichen Qualifikationen und mit Kenntnissen über die Religionen und die Kulturen der Länder, die wir beobachten.« Inman forderte weniger Spione und mehr Spinner.
6.
    Der Enron-Skandal hat deutlich gemacht, dass in der Finanzwelt ein ähnliches Umdenken nötig ist. »Um eine angemessene Offenheit in der Wirtschaft zu erreichen, genügt es nicht, dass Unternehmen ihre Bilanzen veröffentlichen«, schrieb der Juraprofessor Jonathan Macey von der Yale University in einem wegweisenden Artikel, der viele Beobachter veranlasste, den Fall Enron zu überdenken. »Darüber hinaus sind Vermittler erforderlich, die in der Interpretation der Finanzdaten mindestens ebenso kompetent sind wie die Unternehmen in ihrer Erstellung.« Rätsel sind »senderzentriert«, das heißt, ihre Beantwortung hängt davon ab, welche Informationen wir von einem Sender erhalten. Geheimnisse sind dagegen »empfängerzentriert«, das heißt, ihre Lösung hängt von den Fähigkeiten der Zuhörer ab. Macey vertritt die Auffassung, es wäre die Aufgabe der Wall Street gewesen, mit der zunehmenden Verkomplizierung der Geschäftspraktiken bei Enron Schritt zu halten.
    Victor Fleischer, Juraprofessor an der University of Colorado, macht darauf aufmerksam, dass es einen entscheidenden Hinweis für die Situation Enrons gab: Das Unternehmen hatte nämlich in den zurückliegenden vier von fünf Jahren keine Ertragssteuern abgeführt. Dank seiner Neubewertungen und Zweckgesellschaften erweckte das Unternehmen zwar den Anschein, als würde es weit höhere

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