Was der Hund sah
ist das nicht nur die Schuld desjenigen, der die Propaganda verbreitet. Es ist auch unsere Schuld.
Im Frühjahr 1998 beschloss eine Gruppe von sechs Wirtschaftsstudenten der Cornell University, im Rahmen eines Semesterprojekts Enron zu analysieren. »Es war ein Bilanzkurs für Fortgeschrittene und wurde von Charles Lee unterrichtet, einem guten Bekannten in Finanzkreisen«, erinnert sich Jay Krueger, einer der sechs Studenten. Zu Beginn des Semesters hatte Lee die Kursteilnehmer eine Reihe intensiver Fallstudien durchführen lassen und ihnen Techniken und Methoden vermittelt, um die gewaltigen Mengen von Information auswerten zu können, die Unternehmen in ihren Jahresberichten und ihren Berichten an die Aufsichtsbehörden darlegen. Dann wählten die Teilnehmer ein Unternehmen und analysierten es selbst. »Einer von uns hatte ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum und hatte großes Interesse am Energiesektor«, erzählt Krueger weiter. »Also hat er gesagt, warum schauen wir uns nicht Enron an. Es war ein sechswöchiges Projekt, das halbe Semester. Wir hatten eine Menge Arbeitstreffen. Es war eine Analyse der Kennziffern, eigentlich Standard an Wirtschaftsuniversitäten. Sie nehmen 50 Kennziffern und stülpen die über alles, was Sie über den Konzern, seine Unternehmen und deren Leistung im Konkurrenzvergleich herausfinden können.«
Die Gruppe analysierte Enrons Bilanzpraktiken, so gut sie eben konnte. Sie durchforsteten nacheinander sämtliche Enron-Unternehmen. Dazu verwendeten sie statistische Modelle, um auffällige Muster in der Performance des Konzerns zu erkennen - das Beneish-Modell, Lev und Thiagara-Indikatoren, die Edwards-Bell-Ohlsen-Analyse -, und kämpften sich durch endlose Seiten von Fußnoten. »Wir wollten genau wissen, wie das Geschäftsmodell funktioniert«, sagt Krueger. Die Schlussfolgerung der Gruppe war eindeutig. Enron verfolgte eine erheblich riskantere Strategie als seine Konkurrenten. Sie erkannten klare Hinweise darauf, »dass Enron seine Einnahmen manipuliert«. Die Aktie stand damals bei 48 Dollar - auf dem Höhepunkt zwei Jahre später war sie fast doppelt so teuer -, doch die Studenten hielten sie für überbewertet. Ihr Bericht wurde auf der Website der Cornell University veröffentlicht, wo bis heute jeder, der sich dafür interessiert, die 23-seitige Analyse nachlesen kann. Die Empfehlung der Studenten stand in großen Lettern auf der ersten Seite: »Verkaufen!« {‡}
8.Januar 2007
Der millionenschwere Penner
Warum manche Probleme leichter zu lösen als zu verwalten sind
1.
Murray Barr war ein ehemaliger Marinesoldat und mit 1,80 Meter ein Bär von einem Mann. Wenn er stürzte - und er stürzte täglich -, waren zwei oder drei ausgewachsene Männer nötig, um ihn wieder auf die Beine zu stellen. Er hatte glattes, schwarzes Haar und olivfarbene Haut. Auf der Straße nannten sie ihn Smokey. Er hatte kaum noch Zähne im Mund. Die Leute mochten Murray.
Sein Lieblingsgetränk war Wodka. Bier nannte er nur »Pferdepisse«. Auf den Straßen von Reno, wo er lebte, bekam er einen Viertelliter billigen Wodka für 1,50 Dollar. Wenn er Geld in der Tasche hatte, gönnte er sich die Dreiviertelliterflasche, und wenn er kein Geld hatte, dann ging er, wie so viele Obdachlose in Reno, durch eines der Kasinos und trank die halbleeren Gläser an den Spieltischen aus.
»Wenn er einen Lauf hatte, dann haben wir ihn mehrmals am Tag aufgelesen«, erzählt Patrick O’Bryan, Streifenpolizist in der Innenstadt von Reno. »Manchmal haben wir ihn aufgesammelt, im Krankenhaus entgiftet, und ein paar Stunden später war er schon wieder unterwegs. Viele Penner werden bösartig, wenn sie getrunken haben. Sie provozieren, schlagen und beleidigen. Aber Murray hatte einen Sinn für Humor, der ist da irgendwie drüber rausgewachsen. Wenn er uns beleidigt hat, haben wir gesagt: ›Murray, du weißt doch, dass du uns liebst.‹ Dann hat er geantwortet: ›Stimmt.‹ und hat uns weiter beschimpft.« »Ich bin seit fünfzehn Jahren bei der Polizei«, erzählt O’Bryans Kollege Steve Johns. »Murray hat mich durch meine ganze Laufbahn begleitet.«
Johns und O’Bryan flehten Murray an, mit dem Trinken aufzuhören. Vor ein paar Jahren nahm er an einem Entzugsprogramm teil und lebte unter einer Art Hausarrest. Es ging ihm prima. Er fand Arbeit und malochte. Doch dann lief das Programm aus. »Danach hatte er niemanden mehr, bei dem er sich melden musste. Aber das hat er gebraucht«, berichtet O’Bryan.
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