Was der Winter verschwieg (German Edition)
sein als die eigenen Eltern. Sie würde wetten, dass es ihrer Mutter auch so gegangen war, als Daisy noch klein gewesen war. Ihre Mom wollte immer in allem die Beste sein.
Natürlich war es irgendwann zu Daisys Mission geworden, ihr das Gegenteil zu beweisen.
Ihre Mom hätte am Abend zuvor am JFK landen sollen. Daisy nahm an, dass der Schneesturm sie in der Stadt festgehalten hatte und sie einander erst in einigen Tagen sehen würden. Sie war daran gewöhnt, dass ihre Mutter häufig und lange abwesend war, also war das keine große Sache, obwohl es dieses Mal ein wenig anders war als sonst.
Seit ihrem letzten Treffen hatte Daisys Dad Nina geheiratet, was für ihre Mom sicher komisch war. Außerdem war ihre Mutter in diesen fürchterlichen Vorfall in Den Haag verwickelt gewesen. Sie hatte Daisy versichert, dass es ihr gut ginge, aber das konnte alles heißen. Bei ihrer Mom war immer „alles gut“, ob sie sich nun einen Fingernagel einriss oder ein Bein brach. So wie sie ihre Mutter kannte, hatte sie bestimmt auch immer gesagt, mit ihrer Ehe wäre „alles gut“ – bis es dann zur Scheidung gekommen war.
„Ich werde dir nichts vormachen“, sagte Daisy zu Charlie. „Weil ich weiß, wenn es mir mal nicht gut geht, wirst du es sowieso merken.“
Daisy blinzelte durch das Schneetreiben. „Wir sind beinahe da“, erklärte sie ihrem Sohn und wechselte die Straßenseite. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus der Tagesmutter waren frische Spuren von der Schneefräse zu sehen. Daisy sah, dass auch die Hauptstraße schon geräumt worden war. Ein paar unerschrockene Autofahrer schlichen auf ihr entlang; neben den riesigen, von den Schneepflügen aufgetürmten Schneemassen sahen sie aus wie Zwerge.
„Menschen, die bei diesem Wetter Auto fahren, sind Dummköpfe.“ Daisy fühlte sich vorbildlich, weil sie gelaufen war. „Was für ein Idiot … oh, sag mir, dass er nicht auch da ist.“
Aber natürlich war er da. Sie erkannte Logan O’Donnells BMW X3 mit dem SUNY-Aufkleber auf der Heckscheibe sofort. Obwohl Logan der Vater ihres Babys war, war er nie wirklich ihr Freund gewesen. Sie waren nur zwei dumme Highschoolkids gewesen, die in sorgloser Selbstvergessenheit gefeiert hatten. Neun Monate später waren sie Eltern geworden. Daisy hatte keine Unterstützung von Logan gewollt – weder persönlich noch finanziell –, aber damit war sie bei ihm auf taube Ohren gestoßen. Er wollte Charlies Vater sein. Sie hatte damit gerechnet, dass er das Interesse verlieren würde, sobald ihm klar wurde, was es bedeutete, Vater zu sein, doch ähnlich hartnäckig wie Unkraut tauchte er immer wieder auf.
Daisy hatte ihn aus reinem Pflichtgefühl über ihren Termin mit der Tagesmutter informiert. Sie hatte nicht gedacht, dass er dazukommen würde. Nicht an diesem Tag. Unter diesen Wetterbedingungen war selbst der kurze Weg von New Paltz nach Avalon höchst gefährlich. Man musste schon verrückt sein, es zu versuchen.
Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es mehr als eines Schneesturms bedurfte, um Logan aufzuhalten.
„Dann wollen wir mal“, sagte sie laut, als sie auf der Veranda des Hauses der Tagesmutter stand. „Tief durchatmen.“ Sie klopfte.
„Da seid ihr ja“, begrüßte Irma sie herzlich. „Ich bin froh, dass ihr kommen konntet.“
„Es tut ganz gut, mal draußen und an der frischen Luft zu sein.“ Daisy öffnete den Reißverschluss ihres Parkas. „Hey, du“, sagte sie zu Charlie.
Er stieß einen gurgelnden Laut aus und ruderte mit Armen und Beinen, als hätte er sie Wochen nicht gesehen.
„Da bist du ja wieder.“ Daisy setzte sich hin, um das in Fleece gehüllte Bündel aus dem Tragegurt zu nehmen. Charlies süßer, milchiger Geruch hatte sich in den Fasern ihres Pullovers festgesetzt.
Das Baby klang ganz fröhlich, als Irma es mit vertrauenerweckender Sicherheit in die Arme nahm. „Komm her, du kleiner Engel.“ In seinem Anzug sah der Kleine rund und weich wie ein Marshmallow aus. Irma hielt ihn, während Daisy Jacke und Schuhe auszog. „Komm rein und mach es dir gemütlich. Die anderen Kinder halten gerade Mittagsschlaf.“ Irma betreute auch noch ein Geschwisterpärchen im Alter von einem und zwei Jahren.
„Danke.“ Daisy folgte ihr ins Wohnzimmer. Irmas Haus war einfach und klein, aber vollkommen kindersicher. Ein Raum war zum Spielzimmer gemacht worden. In der Ecke stand ein Korb mit Spielsachen. Daisy schaute sich um und dachte, genauso stellt man sich einen Ort vor, an dem man
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