Was der Winter verschwieg (German Edition)
Eltern meiner Mutter leben an der Sunshine Coast von British Columbia, die von meinem Vater in Palm Springs. Manchmal, wenn ich Bilder von ihnen sehe, habe ich das Gefühl, Fremde anzuschauen. Ich wünschte, ich würde sie besser kennen. Meine kanadische Großmutter hatte einen leichten britischen Akzent, aber ich hatte nie die Gelegenheit, sie über ihre Kindheit und Jugend auszufragen, darüber, wie sie nach Kanada gekommen ist.“
„Dann ist es doch umso toller, dass sie jetzt für den Kleinen da sind.“
Um ehrlich zu sein, Sophie wusste nicht, ob ihre Anwesenheit wirklich so toll war – nicht so, wie die Dinge zwischen ihr und Daisy standen.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Noah.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie schauen mich an, als hätte ich etwas vollkommen Dummes gesagt. Ich habe Schwestern. Ich weiß, wie Mädchen dreinschauen, wenn ein Mann etwas Falsches sagt.“
„Und was machen sie?“
Er streckte den Arm aus und fuhr sanft mit seinem Daumen über ihre Augenbraue, was ihr einen kleinen Schauer über den Rücken sandte. „Hauptsächlich runzeln sie die Stirn.“
Seine Berührung verstörte sie, aber auf eine angenehme Art. „Sie haben nichts Falsches gesagt. Ich habe nur bisher noch von keinem gehört, dass es eine gute Idee von mir ist, hierherzuziehen. Die meisten meiner Kollegen am Gericht haben mich darauf hingewiesen, wie wichtig die Arbeit ist, die ich zurücklasse.“
„Dann müssen Sie das von mir ja nicht auch noch hören. Außerdem gibt es bei der Wahl zwischen Familie und Beruf wohl keine zwei Meinungen.“
Eine ungekannte Wärme durchflutete sie. Sie räusperte sich und spürte, dass sie einen Kloß im Hals hatte. Am liebsten hätte sie Noahs Hand genommen und ihn gebeten, sie noch einmal zu berühren. Die Anziehung, die dieser Mann auf sie ausübte, kam vollkommend überraschend für sie. Sie ertappte sich dabei, ihn genau anzusehen, seine Lippen, seine Augen, alles an ihm. Doch abgesehen von der körperlichen Anziehung berührte er sie auf eine noch viel unerwartetere Weise – nämlich mit der Art, wie er sie ansah, und mit den Dingen, die er sagte.
„Okay, und was ist
jetzt
los?“
Sie lächelte über die überwältigende Traurigkeit hinweg, die sie mit einem Mal erfasste. „Ich dachte gerade nur, wenn mir das vor langer Zeit jemand gesagt hätte, wäre mein Leben vollkommen anders verlaufen.“
„Und das zieht Sie gerade runter.“
„Ich fürchte, ja.“
„Dann schauen Sie nicht zurück. Das ist sowieso sinnlos.“
Diese Bemerkung hatte vermutlich eine größere therapeutische Wirkung als alle Stunden mit ihrem Psychiater zusammengenommen, aber Sophie hatte keine Ahnung, wie man Befürchtungen in Schach hielt. Sie hatte so hart daran gearbeitet, nicht in Bedauern zu ertrinken. Sie war froh über die Ungerechtigkeiten, die dank ihrer Arbeit aufgedeckt worden waren. Aber die brutale Wahrheit war, dass sie nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnte. Sie hatte eine Wahl getroffen, und ihre liebste Freizeitbeschäftigung bestand in letzter Zeit darin, den Preis aufzurechnen, den ihre Familie für diese Wahl bezahlt hatte. „So einfach ist das nicht.“
Er zuckte mit den Schultern, stand auf und stellte das benutzte Geschirr in die Spüle. „Ich schätze, es ist so einfach oder kompliziert, wie Sie es machen.“
„So spricht nur jemand, der nie Kinder hatte“, gab sie wütend zurück. Sie fühlte sich mit einem Mal so verletzlich.
Er hatte ihr den Rücken zugewandt, aber sie vermutete, dass ihre verbale Ohrfeige ihn verletzt hatte. Irgendetwas an seiner Haltung hatte sich verändert. Er wirkte irgendwie angespannt. Lieber Himmel, vielleicht hatte er doch irgendwo Kinder. Oder sie bildete sich seine Reaktion nur ein. „Tut mir leid“, sagte sie. „Sie haben einen Nerv getroffen, und ich habe überreagiert.“
Er drehte sich zu ihr um. „Kein Problem. Welche Größe tragen Sie?“
„Wie bitte?“
„Ihre Schuhgröße. Ich wollte Ihnen ein passenderes Paar Stiefel heraussuchen.“
„Oh. Ich habe Größe sieben.“
Er ging in den Vorraum und kehrte mit einem Paar Stiefel mit dicker Sohle zurück und stellt sie in die Nähe eines Heizungsgitters im Boden. „Meine Schwester hat die immer zum Schneemobilfahren getragen. Sie können sie ausleihen, bis Sie sich die passende Ausrüstung für dieses Wetter besorgt haben.“
Die Stiefel waren alles andere als modisch, aber perfekt für den Schnee. „Danke“, sagte Sophie. „Auch für das
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