Was der Winter verschwieg (German Edition)
die Babytrage ein, bevor sie ihn sich vor die Brust schnallte. Mit sechs Monaten war Charlie normalerweise für alles zu haben, und der Tragegurt bildete da keine Ausnahme. Dank ihm konnten sie einander in die Augen schauen, und trotzdem hatte Daisy beide Hände frei. Sie stellte die Gurte noch einmal nach, schlüpfte dann in ihren übergroßen Parka und zog den Reißverschluss über Charlie zu.
„Ich weigere mich, auch nur in die Nähe eines Spiegels zu gehen“, sagte sie, während sie Mütze und Handschuhe anzog. „Ich sehe bestimmt aus wie ein Wal.“
Als sie endlich fertig war, trat sie auf die Veranda hinaus. Die kalte, süße Luft schmeckte nach Freiheit. Bevor sie losging, ging sie wie jedes Mal, bevor sie das Haus verließ, noch einmal ihre mentale Checkliste durch. Brieftasche, check; Schlüssel, check; Windeltasche mit ausreichend Nachschub, um eine Kindertagesstätte auszustatten, check; Handy … hups. Das steckte noch im Ladegerät auf der Arbeitsplatte in der Küche. Diese kleine Unachtsamkeit führte zu einem riesigen Dilemma. Ihre Schlüssel waren in einer Tasche, an die sie nur herankam, wenn sie den Reißverschluss öffnete und Charlie somit der Kälte aussetzte. Das war nicht nur schlecht für ihn, er würde eventuell sogar anfangen zu weinen, und sie wollte nicht mit einem weinenden Baby bei Irma ankommen.
Okay, dann musste das Handy eben zu Hause bleiben. Früher waren die Menschen auch gut ohne ausgekommen. Und sie war sowieso nicht scharf darauf, dass es klingelte, weil sie es meistens gar nicht rechtzeitig in ihren ganzen Taschen fand. Außerdem wohnte Irma ja nur die Straße hinunter. Trotzdem, als sie sich nun über den frisch freigeräumten Gehweg auf den Weg machte, fühlte sie sich irgendwie schuldig. Sie hoffte, dass die Beule, die sie in der unerreichbaren Tasche fühlte, wirklich von ihrem Schlüsselbund stammte. Erst letzten Monat hatte sie sich selbst ausgeschlossen. Sie schien jeden Fehler zu machen, den man als junge Mutter nur begehen konnte – aber wenigstens passierte es meist nur ein Mal.
„Weißt du“, sagte sie zu dem Bündel, das vor ihre Brust geschnallt war. „Ich war mal ein sehr spontaner Mensch. Jetzt plane ich jeden Schritt voraus, als müsste ich ein Minenfeld überqueren.“
Aus den Tiefen ihrer Jacke gab Charlie ein Geräusch von sich. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber den fröhlichen Gurgellauten nach zu urteilen, die er ausstieß, schien er sehr zufrieden, sodass sie den kurzen Spaziergang ohne Probleme hinter sich bringen würden.
„Aber ich muss dir sagen“, fuhr sie fort, „du bist all den ganzen Ärger und noch viel mehr wert.“
Daisy stieß einen erleichterten Seufzer aus, entspannte sich ein wenig und fing an, es zu genießen, an diesem schönen, hellen Wintertag draußen zu sein. Es war schwer zu glauben, dass jemand, der so klein war wie Charlie, einen solchen Einfluss auf das Leben eines anderen haben konnte. Schon als er noch nicht mehr als ein Haufen unbestimmbarer Zellen gewesen war, hatte er ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Sie war ein Teenager, um Himmels willen. So hatte sie sich ihre Zukunft nicht ausgemalt. Und doch war es so gekommen.
Und sie bereute es nicht. Zumindest an den meisten Tagen. Sie betete Charlie an, was schon mal von Vorteil war. Aber durch seine Anwesenheit wurden einige Dinge komplizierter. Also eigentlich alles, wenn sie ehrlich war.
Sicher, sie hatte gewusst, dass sie ihr Baby lieben würde, obwohl die Schwangerschaft alles andere als geplant gewesen war. Doch selbst während der Monate, in denen sie auf Charlies Geburt gewartet hatte, hatte sie sich nicht vorstellen können, wie sich diese Liebe anfühlte. Nichts hatte sie auf eine so tief gehende Liebe vorbereitet – eine Liebe, die so intensiv war, dass es schon beinah wehtat, wenn auch auf positive Weise. Dieser Schmerz erinnerte sie immer daran, dass es einen Menschen auf der Welt gab, dem ihr ganzes Herz gehörte.
„Es stimmt“, sagte sie zu ihm, während sie schweren Schrittes den Fußweg entlangging. „Ich habe früher vieles aus einer Laune heraus gemacht, ohne irgendetwas zu planen, weißt du? Ich bin in die U-Bahn gesprungen und hatte nichts außer einem Bündel Geldscheine und meinem Ausweis dabei.“ Sie tätschelte das Bündel unter ihrer Jacke. „Ich schwöre, wenn du jemals so etwas abziehen solltest, bekommst du mächtigen Ärger.“ Sie fragte sich, ob alle das taten – ob sie schworen, bessere Eltern zu
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