Was der Winter verschwieg (German Edition)
auch eine Sammlung Anime-Figuren zierte.
„Lassen Sie sich von Daphne nicht täuschen“, sagte Melinda. „Sie ist beinahe dreißig und unglaublich clever, aber ein Teil von ihr scheint in der Highschoolzeit stecken geblieben zu sein.“
„Du sagst das, als wäre es was Schlechtes.“ Daphne nahm den Deckel von einem Glas mit Lakritzstangen, das auf ihrem Tisch stand. „Möchte jemand ein Schlückchen Wein?“
„Nein danke.“
„Es ist alles ein wenig beengt“, erklärte Melinda, als sie ihren Rundgang fortsetzten, „aber immerhin hat jedes Büro ein Fenster.“ Das Büro für die neue Teilzeitmitarbeiterin war ein winziger Raum, der nur das Nötigste enthielt – einen Tisch, einen Computer, ein Regal und zwei Stühle für Klienten. Ein Fenster, auf dem der Schriftzug KANZLEI von hinten zu sehen war, ging auf die Hauptstraße hinaus, die im Moment mit Bannern geschmückt war, die den Winterkarneval ankündigten.
Sophie konnte sich kaum an den Blick aus ihrem Büro in dem Glas- und Betongebäude des Internationalen Strafgerichtshofs erinnern. Das Wattenmeer, vermutete sie, nasse, von Gebäuden gesäumte Bürgersteige und der unvermeidliche Kanal. Blumenfelder im Frühling. Und in der Ferne Brücken, vielleicht sogar die, über die sie in jener Nacht gefahren war.
„Ich will Ihre Zeit nicht vergeuden“, unterbrach Mel ihre Gedanken, und Sophie kehrte wieder in die Gegenwart zurück.
„Tut mir leid, was haben Sie gerade gesagt?“
„Sie sind mehr als ausreichend qualifiziert, und ich würde mich freuen, wenn Sie hier anfangen würden“, wiederholte Mel. „Ich zeige Ihnen noch, wie wir unsere Stunden berechnen und was Sie hier zu erwarten hätten, und dann können Sie es sich überlegen und …“
„Ich muss mir nichts überlegen. Ich denke, dieser Job ist genau der richtige für mich.“
Sie schluckte. „Ich will offen zu Ihnen sein. Ich halte mich für eine sehr gute Anwältin, doch ich habe noch nie in einer Kleinstadt gearbeitet. Es gibt da ein paar … Altlasten, könnte man es nennen, die Einfluss auf einige Ihrer Klienten haben könnten. Hat Philip Ihnen erzählt, dass ich mit seinem Bruder Greg verheiratet war?“
„Das macht Ihnen Sorgen?“
„In einer Stadt wie dieser kann das durchaus Auswirkungen auf das Geschäft haben.“
Mel lachte. „In einer Stadt wie dieser ist jeder der oder die Ex von jemand anderem. Stimmt’s nicht, Daphne?“, fragte sie ihre Mitarbeiterin, die gerade hereinkam, um ihr eine Akte zu bringen.
„Absolut. Mel ist eine Zeit lang mit einem der Bezirksstaatsanwälte ausgegangen.“
„Und es hat unsere berufliche Zusammenarbeit nicht im Geringsten beeinflusst. Ehrlich, Sophie, machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
Nachdem das geklärt war, machten Sophie und Mel sich daran, die Einzelheiten zu besprechen. An zwei Tagen in der Woche kümmerte Sophie sich um Charlie. An den anderen drei Tagen würde sie in die Kanzlei kommen.
„Wir sind nicht spezialisiert“, erklärte Melinda. „Ich nehme alles an, was hereinschneit.“
„Damit habe ich kein Problem.“
„Gut. So bleibt die Sache nämlich interessanter.“
Sophie fand ziemlich schnell heraus,
wie
interessant. In ihrem ersten Fall ging es um einen Mann, der eine Stripteasetänzerin in Lake Katrine verklagen wollte. Er behauptete, dass sie ihm während eines Lapdance auf einer Junggesellenparty mit dem Stiletto gegen den Kopf getreten hätte. Auf „rücksichtslose und fahrlässige Weise zu tanzen“, wie Sophie es in dem Brief schreiben musste, war wohl kaum ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber die Verletzungen des Mannes waren trotzdem real.
Sie bekam es außerdem mit einer Frau zu tun, die seit siebenundvierzig Jahren verheiratet war und ihren Ehemann verklagen wollte, weil er ihre Post öffnete, mit einer Pudelzüchterin, die Schadensersatz von ihrem Tierarzt verlangte, weil der die Rute eines ihrer Welpen zu kurz kupiert hatte (Sophie war erleichtert, dass der Schuldige nicht Noah Shepherd war), und mit einem Jungen, der einen Lehrer zwingen wollte, ihm eine Eins anstatt einer Zwei plus zu geben, um seinen perfekten Notendurchschnitt zu behalten.
Okay, dachte sie, die Welt retten wir hier also nicht. Aber dann traf sie auf Mr und Mrs Fleischman, ein schon lange Jahre verheiratetes Ehepaar, das Opfer eines Hypothekenbetrugs geworden war. Und auf das junge Pärchen, dessen Versicherung das frisch aus Übersee adoptierte Baby nicht in den Vertrag mit aufnehmen wollte.
Als
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