Was der Winter verschwieg (German Edition)
hier intensivieren müssen. Sie war zum Wohl ihrer Kinder in diese Stadt gekommen, hatte sich vorgenommen, es irgendwie durchzustehen. Stattdessen hatte sie jedoch das Unerwartete gefunden – eine Chance, ihr Leben neu zu ordnen, es mit netten Menschen und echten Gefühlen zu füllen. Es stimmte, in den letzten Wochen war sie ihren Kindern nähergekommen als in all den Jahren zuvor. Allein das ermutigte sie und weckte erneut eine tiefe Dankbarkeit in ihr, am Leben zu sein.
Außerdem spürte sie, dass das, was zwischen ihr und Noah Shepherd entstand – noch weigerte sie sich, dem einen Namen zu geben –, ihr von Tag zu Tag wichtiger wurde. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob das so gut war. Es war nie ihr Ziel gewesen, nach Avalon zu kommen und jemand Besonderen kennenzulernen. Sie war wegen ihrer Kinder und ihres Enkels hier.
Trotzdem, Daisy hatte recht, wenn sie sagte, dass Sophie noch viel Platz in ihrem Leben hatte. Bisher hatte sie sich über ihren Job definiert; das Gefühl von Wichtigkeit und Bestätigung, das die Arbeit für ein höheres Ziel ihr vermittelte, hatte ihre Identität bestimmt. Nun jedoch verstand sie, dass es auf mehreren Ebenen juristische Gerechtigkeit geben musste – sowohl für ganze Nationen als auch für eine einsame Soldatenfrau wie Gayle Wright.
Der Anstoß von Daisy war alle Motivation, die Sophie brauchte. An diesem Tag hatte sie ein Treffen mit Philip Bellamy, ihrem ehemaligen Schwager. Er wollte sie mit Melinda Lee Parkington bekannt machen, einer Anwältin aus dem Ort, die demnächst in Mutterschutz ging und eine Vertretung für ihre Kanzlei suchte.
Sophie kam zu früh am Blanchard Park an, wo Philip mit einem Team Ehrenamtlicher von der Handelskammer arbeitete. Sie kam an einer Gruppe von Menschen vorbei, die eine Bühne für den anstehenden Winterkarneval aufbauten. Noahs Band würde auch auftreten. Sophie war inzwischen ein Fan ihrer Musik geworden. Sie waren wirklich gut, und es machte unglaublichen Spaß, mit ihnen abzuhängen, wie die Jungs es nannten. Das war etwas, das Sophie in der Vergangenheit nicht oft getan hatte. Abhängen. Noah und seine Freunde hatten ihr gezeigt, dass es fast eine Kunstform war, eine Art, sich ganz dem Rhythmus und der Melodie hinzugeben. Machte sie das eigentlich zum Groupie der Band? Es war seltsam für sie, sich so zu sehen.
Philip hatte die Aufsicht über eine Gruppe College-Studenten, die dabei war, ein lebensgroßes Eisschloss zu errichten. Das Schloss war die Hauptattraktion des Festivals. Es wurde aus riesigen Eisblöcken gebaut, und die Menschen arbeiteten Tag und Nacht, um es fertigzustellen.
„Das ist echt beeindruckend.“ Sie betrachtete die glitzernden Wände. „Ich war mir nicht sicher, was ich zu erwarten hatte.“
„Es ist ein Meisterstück der Ingenieurskunst.“ Stolz nahm er den Bauhelm ab. „Bist du bereit, Melinda kennenzulernen?“
„Ja. Und danke noch mal, ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen.“
„Kein Problem.“ Sie gingen nebeneinander Richtung Stadtzentrum, das nur ein paar Straßen vom Park entfernt lag. Sophie spürte eine gewisse Spannung zwischen sich und Philip. „Ist das hier sehr peinlich?“, fragte sie. „Wegen Greg und mir, meine ich …“
„Es ist überhaupt nicht peinlich“, versicherte er ihr. „Ich weiß, wie es nach einer Scheidung läuft. Bei mir ist es zwar schon zwanzig Jahre her, aber ich erinnere mich immer noch sehr gut an den Schmerz und die Unsicherheit. Allerdings auch an das Gefühl von Freiheit.“
Sie nickte. „Klingt vertraut. Sag mir einfach nur, dass es leichter wird.“
„Dein Leben geht weiter. Und darin wirst du hoffentlich besser sein als ich. Ich habe jahrelang – während und nach meiner Ehe mit Pamela – an ein Mädchen aus meiner Vergangenheit gedacht, das überhaupt nicht existiert hat.“
Er bezog sich auf ein Mädchen aus Avalon, das er vor Jahrzehnten kennengelernt hatte, als er noch auf dem College war. Sie war seine erste Liebe gewesen, irgendwann jedoch plötzlich aus seinem Leben verschwunden und hatte ihm nie erzählt, dass sie seine Tochter zur Welt gebracht hatte. „Für dich hat sie aber existiert, oder?“
Philip steckte die Hände in die Taschen. „Ja. Und wenn man sich nach jemandem verzehrt, der schon lange fort ist, kann man ihn in alles verwandeln, was man will. Kein Wunder, dass ich kein Glück damit hatte, mich mit Frauen zu treffen und weiterzumachen. In meinem Kopf hatte ich ja bereits die perfekte Frau, mit der keine
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