Was der Winter verschwieg (German Edition)
Als sie den Stall betraten, brachte die warme, vertraute Atmosphäre für Sophie eine Flut an Bildern zurück. Längst vergessene Erinnerungen an das Mädchen, das sie einst gewesen war. Sie dachte, sie hätte dieses Mädchen vergessen; diese Sophie, die im Überfluss lachte und träumte, die es liebte, die Welt vom Rücken ihres Pferdes aus zu betrachten. Diese Welle der Nostalgie traf sie völlig unvorbereitet und beschwor eine Vergangenheit herauf, an die sie seit Jahren nicht gedacht hatte – eine seltene Form des Glücks, das vollkommen rein und bedingungslos war, und Träume, die einzig und allein ihr gehörten.
Sogar sich um die Tiere zu kümmern – vier Pferde unterschiedlichen Alters – war ihr vertraut. Sie steckten ihre Köpfe über die Boxentüren, stellten die Ohren auf und blähten in Erwartung ihres Abendessens die Nüstern. Sophie liebte den Geruch ihres Futters und ihres Atems, den trockenen Duft von Heu und sogar den erdigen Geruch der Pferdeäpfel. Sie zog einen Handschuh aus und streichelte die Blesse einer Stute, genoss das seidig-warme Gefühl unter ihrer Hand.
„Das ist Alice. Die anderen heißen Jemma, Shamrock und Moe“, erklärte Noah. „Moe ist schon seit Jahren hier, die anderen habe ich gerettet.“
Sophie lächelte. „Ich erkenne da langsam ein Muster – du magst es, Lebewesen zu retten.“
„Es fällt mir schwer, einem Tier den Rücken zuzuwenden. Erst letzten Monat habe ich eines verloren. Er war alt, und ich musste ihn einschläfern.“
Sophie schloss kurz die Augen und versuchte, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, derjenige zu sein, der die erlösende Spritze gab. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie der Verlust ihres eigenen Pferdes sich angefühlt hatte – wie ein Presslufthammer, der auf sie eindröhnte, bis sie taub war. Danach war ihr Herz Zelle für Zelle zu Stein geworden. „Wie erträgst du es nur, ein Tier zu verlieren?“
„Weil ich es schlimmer fände, es gar nicht erst gehabt zu haben. Ich genieße die Zeit, die mir mit den Tieren geschenkt wird.“ Er nahm einen großzügigen Arm voll Heu vom Ballen und verteilte es in einer Box. „Shamrock ist der Neueste. Die Idioten, denen er gehörte, hatten keine Ahnung, wie man sich um ein Pferd kümmert.“
Er ging zum nächsten Pferd. „Jemma wurde aufgegeben, sie war aber zu bösartig, um vermittelt zu werden.“ Während er das sagte, knabberte die Stute zärtlich an seinem Hals.
„Sie sieht sehr glücklich aus.“
„Es hat lange gedauert, bis sie mir vertraut hat, aber die Geduld und Mühe haben sich gelohnt.“
„Ich schätze, auf einmal mit ausgesetzten oder verlassenen Tieren dazustehen gehört zu den Gefahren deines Berufs“, sagte Sophie.
„Ja, das ist einer der Vorzüge. Selbst den schlimmsten Fällen von Vernachlässigung geht es früher oder später besser.“
Bist du wirklich so wundervoll? fragte sie sich stumm. Vielleicht war sie von der Tatsache geblendet, dass sie vor wenigen Stunden den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte. Sie fielen in einen angenehmen, ruhigen Rhythmus und arbeiteten Hand in Hand.
„Du bist gut“, bemerkte er.
„Ich hatte sehr lange ein eigenes Pferd.“ Sie spürte, dass sie den Tränen erschreckend nahe war.
Noah pfiff durch die Zähne, als sie fertig waren. Sie gingen wieder nach draußen, wo die Schatten wie scharfe Reliefs auf dem weißen Schneefeld lagen. Sophie fühlte sich seltsam verletzlich und war gleichzeitig von großer Dankbarkeit erfüllt.
„Wie geht es deinem Knie?“
„Gut, danke. Das war nur ein kleiner Schnitt, Noah, und du hast dich gut um mich gekümmert.“
„Wir haben heute Nacht Vollmond und nicht eine Wolke am Himmel. Lass uns ausreiten.“
Sie stockte. Die Vorstellung, mit ihm durch die vom Mondlicht erhellte Nacht zu reiten, kam ihr so romantisch vor. Aber sie war keine Romantikern. „Es ist mitten im Winter.“
„Wir reiten nicht weit.“ Er holte bereits Decken, Sättel und Zaumzeug aus der Sattelkammer. „Hilf mir mal bitte hiermit.“
„Du bist verrückt, weißt du das?“ Und doch öffnete sie eine Boxentür, führte eine der Stuten heraus und band sie in der Stallgasse fest.
Noah ließ sein jungenhaftes Grinsen aufblitzen und holte ein zweites Pferd heraus. Gedankenverloren begann Sophie, ihr Pferd zu satteln, und war erstaunt, wie leicht ihr das noch immer von der Hand ging. Jeden Tag nach der Schule war sie mit ihrem Fahrrad durch die hügeligen Straßen ihres Wohnviertels zu dem Stall
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