Was der Winter verschwieg (German Edition)
gefahren, in dem Misty stand. Sophie hatte alle Aspekte des Reitens genossen. Vom Füttern über die Pflege des Pferdes bis zum Reiten im Viereck oder über die Wald- und Reitwege.
„Du bist wirklich gut.“ Bewundernd sah Noah sie an. „Ich schätze, deine Behauptung, du wärst mal geritten, war eine starke Untertreibung.“
„Für mich gab es nichts Wichtigeres auf der Welt als mein Pferd.“ Sie merkte, dass ihr das Reden einfacher fiel, wenn sie sich auf ihre Aufgabe konzentrierte. Die Stute – Alice – schien gut ausgebildet zu sein; sie sperrte sich erst ein wenig gegen das Mundstück, nahm es dann aber problemlos an.
Sophie ertappte sich dabei, von ihrer Kindheit in Seattle zu erzählen, von den vielen Umzügen, die mit dem sozialen Aufstieg ihrer Eltern einhergegangen waren. Misty war die einzige Konstante in ihrem Leben gewesen. Sophie hatte das Pferd mit jeder Faser ihres Wesens geliebt. Sie hatte von ihr geträumt, sich Geschichten über sie ausgedacht und allein der Gedanke an den nachmittäglichen Ritt hatte ihr jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.
Gemeinsam ritten sie aus der Stallgasse in den perfektesten Winterabend hinaus, den Sophie je gesehen hatte. Als sie die weichen Schneehügel sah, die aussahen wie vom Mondlicht in die Schatten gemeißelt, hielt sie den Atem an und wandte sich Noah zu. „Das ist noch ein erstes Mal für mich. Im Dunkeln durch den Schnee zu reiten.“
„Geht es deinem Knie noch gut?“, fragte er.
„Ja, keine Probleme.“
Er ritt vor über die unberührte Weide, sein Pferd bahnte sich einen Weg durch den tiefen Schnee. Sophie drückte die Fersen in die Seiten ihrer Stute und folgte ihm. Sie verspürte diesen kurzen Moment der absoluten Freude, der einen Rausch der Gefühle mit sich brachte, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Die kalte Luft auf ihrem Gesicht, die Wärme und Stärke des Pferdes unter sich, die unvergleichliche Landschaft – all das zusammen war einfach überwältigend. Sie und Noah sprachen nicht, als sie den breiten, baumlosen Abhang hinaufritten. Der Atem der Pferde bildete kleine Wolken, die sich wie ein Weichzeichner über die Landschaft legten, bis Sophie das Gefühl hatte zu träumen. Oben auf dem Hügel angekommen, blieben sie stehen und schauten auf die Farm hinunter, die unberührt daliegende Straße, die Lichter, die in den Häusern am Seeufer funkelten. Völlig entspannt ließ Sophie sich nach vorn über den Hals der Stute sinken und erlaubte sich, einfach mal nur zu fühlen, anstatt zu planen und sich Gedanken zu machen. „Danke“, flüsterte sie und meinte damit sowohl das Pferd als auch Noah. „Das ist wunderschön.“
„Ich dachte mir, dass es dir gefallen würde.“
Sie fragte sich, wie weit es bis in die Stadt war, weil ihr mit einem Mal der wilde Gedanke kam, Max und Daisy zu besuchen. Auf einem Pferd. Dann würden sie wirklich glauben, sie hätte den Verstand verloren.
Auf dem Rückweg zeigte Noah ihr den besten Hügel zum Schlittenfahren auf dem Grundstück, ein Ahornwäldchen, in dem Gayle immer Sirup zapfte, eine kleine Brücke über einen komplett zugefrorenen Bach. Das war seine Welt, so wie er sie schon immer gekannt hatte. Es war ein Ort, an dem sie sich vollkommen sicher fühlte, sogar nach diesen rekordverdächtigen Schneefällen. Sie stellte fest, dass es ihr gefiel, eingeschneit zu sein. Von der Natur gezwungen zu werden, das Tempo zu verlangsamen und nah beim Haus zu bleiben, war gar nicht mal so schlecht, vor allem in Noahs Gesellschaft.
Sie hätte nicht so lange damit warten sollen, wieder zu reiten, doch die Lektionen, die sie in der Vergangenheit gelernt hatte, wogen schwer. Als Mädchen hatte sie zu viel von sich gegeben, um sich ihrem Pferd verbunden zu fühlen – zumindest war das die Sicht ihrer Eltern gewesen. Sie hatten sie gewarnt, es wäre nur eine Ablenkung von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens wie Schule, Sport, Musik und andere außerschulische Aktivitäten, von denen sie später profitieren würde, sobald die Bewerbungen für die Colleges anstünden.
Über die Jahre hatte sie gelernt, dass der Verlust verschiedene Facetten besaß, und die schlimmsten waren die, die sie selbst zu verantworten hatte. Ihre Ängste, Befürchtungen und Ambitionen hatten unweigerlich einen Keil zwischen sie und ihre Kinder getrieben.
Jetzt hatte sie auf einmal das Gefühl, dass es noch nicht zu spät war. Sie war aus einem bestimmten Grund hier – um ihre Familie zurückzugewinnen. Das
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