Was der Winter verschwieg (German Edition)
Gefühl, auf der Welt etwas zu bewirken, sie von ihnen fortgetrieben hatte. Und ihre Geiselnehmer? Guter Gott. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte, so viel hätte sie ihnen gerne gesagt.
Sie beschloss, es einfach mal auszuprobieren, nahm sich ein Blatt Papier und fing an. „Lieber Dad.“ Mehr kam nicht. Nicht weil sie nichts zu sagen hatte, sondern weil sie viel zu viel sagen wollte. Das gleiche Dilemma zeigte sich bei „Lieber Greg“ und auch bei „Liebe Daisy, lieber Max …“ Sie fragte sich, was ihre Kinder denken würden, wenn sie wüssten, womit sie sich die eingeschneite Zeit vertrieben hatte. Hoffentlich würden sie es niemals herausfinden. Anstatt einen Brief zu schreiben, machte sie sich eine Liste von Dingen, die sie als Mutter gern tun würde. Zu Max’ Eishockeyspielen gehen. Daisy helfen, ein Babybuch für Charlie anzulegen. Ein Zeugnis unterschreiben. Kekse backen lernen.
Es war ein Anfang. Sie faltete die Liste zusammen und steckte sie in die Tasche. Dann folgte sie ihrer Nase und dem Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee in die Küche. Dort fand sie die Überreste eines frühen Frühstücks vor – eine Müslischüssel in der Spüle. Igitt, Choko Crispies. Den Spuren im Schnee nach zu urteilen, war Noah mit den Hunden rausgegangen. Sophie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und hoffte, dass er bald zurückkäme, damit sie ihm erklären konnte, dass es sich bei dem hier – was auch immer
das hier
war – um keine sonderlich gute Idee handelte. Oder doch?
Eine Schande, dachte sie. Denn wenn das hier eine schlechte Idee war, fühlte sie sich zumindest ganz wunderbar an. Sie seufzte und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Dann nahm sie ihren Kaffee mit in das vordere Zimmer und fügte ihrer Liste noch ein paar Dinge hinzu. Durch das Fenster sah sie eine kleine Gruppe von Eltern und Kindern an der Bushaltestelle warten. Die Straße schien geräumt und gestreut zu sein. Ja, dachte sie. Endlich kann ich Max und Daisy besuchen.
Das Leben ging also weiter. Eine Mutter stand hinter ihrem kleinen Mädchen und flocht ihm die Haare, während andere Kinder einander in dem Wartehäuschen jagten. Einen Augenblick später bog ein gelb-schwarzer Schulbus um die Ecke und kam mit quietschenden Bremsen an der Haltestelle zum Stehen. Die Kinder in ihren Schneeanzügen und mit dicken Ranzen auf den Rücken drängten zur offenen Bustür. Als Sophie beobachtete, wie die Eltern ihre Kleinen noch ein letztes Mal umarmten, wurde sie von ihren Gefühlen übermannt. Es war etwas ganz Alltägliches – eine Mutter, die ihr Kind am Schulbus verabschiedete, doch Sophie kam es wie eine seltene und ganz besondere Erfahrung vor.
Noah betrat das Zimmer und umarmte sie von hinten. Er knabberte an ihrem Hals, bis sie förmlich in seinen Armen dahinschmolz. Er roch nach kalter Luft, frischem Schnee und Holz. „Das ist der gleiche Bus, mit dem ich als Kind gefahren bin“, sagte er.
Sophie versuchte, sich vorstellen, wie es war, sein ganzes Leben an einem Ort zu verbringen. „Hat deine Mutter jeden Tag mit dir an der Bushaltestelle gewartet?“
„Nein. Sie hatte zu viel zu tun. Aber meine Großmutter war immer da.“
„Ich verstehe …“ Sie schaute wieder nach draußen. Der Bus holte weit aus und bog um eine Kurve. Seine leuchtend gelbe Seite kam der Leitplanke gefährlich nah. Sophie verspannte sich, musste an den Augenblick im Lieferwagen denken. Dann fing sie sich jedoch wieder und kuschelte sich in Noahs Arme, während der Bus in einer Wolke aus Abgasen verschwand.
Sie fragte sich, ob Noah wohl Kinder mochte, aber trotz der Intimitäten der letzten Tage empfand sie es als zu persönlich, ihn danach zu fragen.
Magst du Kinder?
war offiziell die verschlüsselte Version von
Bist du ein aussichtsreicher Kandidat zum Sesshaftwerden?
Das war keine Frage, die man einem Mann stellte. Nicht einmal einem, der einen aus dem Graben rettet, Feuerholz vorbeibringt und Makkaroni mit Käse macht – und einem einen süchtig machenden Orgasmus nach dem nächsten beschert, dachte Sophie.
„Du bist so schweigsam“, merkte er an. „Woran denkst du?“
Als wenn sie ihm das erzählen würde. Aber trotzdem war ihr nach Reden zumute. „Das zu beobachten …“, sie zeigte nach draußen, wo die Mütter zu ihren Häusern zurückkehrten, „… weckt Schuldgefühle in mir. So etwas habe ich nie für meine Kinder getan. Ich habe nie mit ihnen an der Bushaltestelle gewartet.“
„Das würden die meisten Serienmörder auch
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