Was der Winter verschwieg (German Edition)
die perfekte Nahrung für einen Säugling sei, wurde behauptet. Charlie schien allerdings eine ganz besondere Gabe zu haben. Selbst mit nichts als einer aus Muttermilch bestehenden Mahlzeit im Bauch konnte er quer durch den Raum spucken.
Sie schaute schnell ins Schlafzimmer, wo ihr Sohn in seiner Wiege schlief, die nur wenige Schritte von Daisys Bett in einem Erker stand. Ihr Blick fiel auf eine Packung Windeln, die sie vergessen hatte wegzuräumen. Schnell stopfte sie sie in eine Schublade. Charlie stieß einen kleinen Seufzer aus, wachte aber nicht auf.
Daisy strich die Bettdecke glatt – wenigstens das Bett hatte sie schon gemacht – und warf dann ein paar benutzte Handtücher in den Wäschekorb. Genau in dem Moment wurde Charlie wach und verkündete das mit einem übellaunigen Schrei.
„Hey.“ Sie durchquerte das Zimmer und beugte sich über die Wiege, wofür sie mit einem strahlenden Lächeln belohnt wurde.
Der Kleine strampelte mit den Beinen und streckte seine kleinen Arme nach ihr aus. Daisy nahm ihn hoch. Natürlich war die Windel klitschnass, also machte sie sich daran, ihn zu wickeln. Das bedeutete, ihn aus seinem Strampler zu pellen und die volle Windel zu entfernen, ihn von Kopf bis Fuß mit einem Feuchttuch abzuwischen, ihm eine neue Windel anzulegen und ihn in einen frischen Strampler zu stecken. Sie entschied sich für den flauschigen, den ihre Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Das würde ihrer Mom gefallen. Vielleicht sogar so gut, dass sie ganz vergaß, irgendetwas zu kritisieren.
Daisys Mom hatte ihr immer das Gefühl vermittelt, eine Versagerin zu sein. Sie tat es nicht mit Absicht. Es war auch nicht so, dass sie Daisy eine Schlampe nannte oder ihr sagte, dass sie nicht gut genug wäre. Ihre Mutter war einfach nur so unglaublich perfekt.
Sie sah aus wie eine Schauspielerin aus einem alten Schwarz-Weiß-Film. Die personifizierte Klasse und Eleganz. Sie war eine strebsame Schülerin und Studentin gewesen und eine perfekte Anwältin geworden. Im College war sie national anerkannte Leistungsschwimmerin gewesen, und sie nahm noch heute manchmal an Wettbewerben teil und schlug alle anderen in ihrer Altersgruppe. Und in ihrem Beruf tat sie Dinge, die die Welt veränderten.
Im Vergleich mit ihr fühlte Daisy sich vollkommen unzulänglich.
Sie hörte das Zuschlagen von Autotüren und eilte zur Haustür, um ihre Mutter hereinzulassen. Über dem kleinen Tischchen im Flur hing ein Spiegel. Daisy hielt kurz inne, um den Sitz ihrer Haare zu überprüfen –
völlig zwecklos –
, und öffnete die Tür mit einem gerade erst wach gewordenen Baby auf dem Arm und einem zögerlichen Lächeln auf den Lippen. „Mom!“
„Hallo, meine Süße.“ Gefolgt von Max trat ihre Mutter ein. In dem Augenblick, in dem sie ihren Fuß in das Haus setzte, wirkte alles auf einmal düsterer und schäbiger. Daisy hoffte inbrünstig, dass sie sich das nur einbildete.
Ihre Mom umarmte sie samt Baby. Ein paar Sekunden lang spürte Daisy nichts anderes als warme Zufriedenheit. „Du hast mir gefehlt, Mom.“
„Du mir auch. Ich habe dich und Max und Charlie so sehr vermisst, dass ich es nicht mehr ertragen habe.“
„Mom, weinst du etwa?“, fragte Daisy erstaunt.
Ihre Mutter nickte, während sie Charlies Gesicht betrachtete. „Es tut so gut, wieder bei euch zu sein.“
Daisy und Max tauschten einen Blick. Max sah so ratlos aus wie immer. Daisy trat einen Schritt zurück und musterte das Filmstargesicht ihrer Mutter. Das kam so unerwartet. Ihre Mutter weinte nie. „Dir geht’s nicht gut. Mom …“
„Nicht jetzt“, murmelte sie.
Was so viel bedeutete wie „nie“, das wusste Daisy nur zu gut. Sie beschloss, ihre Mutter nicht zu bedrängen.
„Jetzt möchte ich erst mal meinen Enkel im Arm halten.“ Sophie streckte die Arme nach dem warmen, weichen Bündel aus. „Hallo, mein kleiner Schatz“, begrüßte sie ihn.
Charlie kam gerade in das Alter, in dem er so seine ganze eigene Meinung in Bezug auf Fremde hatte. Als er noch ganz klein war, war er zu jedem auf den Arm gegangen; einzig, wenn er Hunger hatte, gab es für ihn nur Daisy. Jetzt erkannte er bereits einige Menschen – Max, ihren Vater, Nina. Und Logan. Seine wöchentlichen Besuche fingen an, Eindruck auf Mr C. zu hinterlassen, wie sie ihn gern nannte.
Daisy hielt den Atem an, als sie sah, wie Charlie seinen ernsten Blick auf das Gesicht ihrer Mutter richtete und versuchte, zu entscheiden, ob sie Freund oder Feind war. War es das, was
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