Was der Winter verschwieg (German Edition)
Sohn in die Arme. Das Gefühl, ihn so nah bei sich zu haben, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie freute sich immer, ihn zu sehen, aber nach dem, was sie durchgemacht hatte, wusste sie noch viel mehr zu schätzen, wie wertvoll gemeinsam verbrachte Zeit mit ihm war. Er roch nach Winterluft, und seine Arme waren stark und gar nicht mehr kindlich. Er war so … „Sieh dich nur an.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Du bist so groß geworden.“
Sie konnten sich beinahe direkt in die Augen sehen. Was gab Nina dem Jungen nur zu essen?
Er grinste und gewährte ihr damit einen Blick auf seine neue Zahnspange. Sie sagte nichts, aus Angst, ihn damit zu verunsichern.
Doch er hatte keinen Grund, unsicher zu sein. Ihr Sohn sah unglaublich gut aus. Er hatte die starken, gleichmäßigen Gesichtszüge seines Vaters und das Nordisch-Helle der Lindstroms.
„Ich dachte, wir könnten zusammen Daisy und Charlie besuchen“, sagte sie. „Wäre das in Ordnung für dich?“
„Klar.“ Max schaute Nina an. „Ich habe Hausaufgaben in Mathe und Englisch. Aber Englisch ist erst Mittwoch fällig.“
Es gibt so viele Arten, sich unbehaglich zu fühlen, dachte Sophie. Nina hat also die Hausaufgabenaufsicht übernommen.
„Ich wollte irgendwo mit ihnen essen gehen“, fügte Sophie hinzu. „Es wird aber nicht allzu spät.“ Da. Sie hatte nicht um Erlaubnis gefragt. Sie hatte Nina lediglich über ihre Pläne informiert.
„Das klingt gut“, erwiderte Nina leichthin.
„Hey, Dad.“ Max’ Stimme war so laut, dass Sophie zusammenzuckte. „Wir fahren zu Daisy, okay?“
„Wir sehen uns später, Kumpel.“ Greg kam in den Salon zurück. „Fahr vorsichtig, Sophie, die Straßen sind immer noch glatt.“
„Klar, das mach ich immer“, erwiderte sie und musste sich sehr zurückhalten, nicht zu ihrem Auto zu rennen.
14. KAPITEL
D aisy mochte es, allein zu wohnen. Nach Charlies Geburt hatte sie eine Weile bei ihrem Dad gelebt, aber das war nur eine vorübergehende Lösung gewesen. Sie hatte endlich ihr eigenes Leben führen wollen, auch wenn sie gewusst hatte, dass es nicht leicht werden würde. Und das war es auch nicht. Doch das machte sie nur noch entschlossener, es zu meistern. Sie musste ja nicht ganz ohne Unterstützung auskommen. Da war zum Beispiel der Treuhandfonds von ihren Großeltern, den sie für alle ihre Enkelkinder angelegt hatten. Daisy hatte am Tag der Geburt ihres Kindes Zugriff auf ihren erhalten. Das machte sie zwar noch nicht zu Paris Hilton, aber es gab ihr die Freiheit, sich auf ihren Sohn und ihre Ausbildung zu konzentrieren.
Das Haus, in dem sie wohnte, war nichts Besonderes: eine Doppelhaushälfte am Rande der Stadt, mit von Bäumen gesäumten Bürgersteigen und einem kleinen öffentlichen Spielplatz am anderen Ende der Straße, auf dem Charlie spielen konnte, wenn er alt genug war. Die Zimmer waren klein, aber Daisy liebte das Haus, weil es ihres war. Doch nun würde ihre Mutter in wenigen Minuten vor der Tür stehen, und Daisy bekam einen Panikanfall. Mit einem Mal sahen die Zimmer nämlich nicht mehr gemütlich aus, sondern einfach klein und eng. Die zusammengewürfelte Inneneinrichtung – hauptsächlich Möbel, die nach der Renovierung des Inn am Willow Lake übrig geblieben waren – erinnerte sie an einen Flohmarkt. Sie sah nur noch das Geschirr in der Spüle, die Staubflocken auf dem Boden, den Berg aus Winterklamotten und Babysachen im Flur. Mit einem Auge behielt sie immer die Uhr im Blick, während sie wie ein Derwisch durch das Häuschen wirbelte, hier ein Kissen aufschüttelte und dort Wäsche zusammenfaltete und in den Wäschekorb legte.
Ihre Mom hatte gesagt, sie würde mit Max rüberkommen, sobald er aus der Schule war. Der Besuch kam also nicht wirklich überraschend, sie, Daisy, hatte vorher ausreichend Zeit gehabt. Wie kam es also, dass trotzdem überall noch Babyspielzeug zwischen den Zeitungsausrissen und Broschüren für ihr derzeitiges Projekt herumlag? Wie konnte es sein, dass sie immer noch ihren Reißverschluss-Hoodie trug, dessen linke Manschette vom Zeichnen ganz verschlissen war und der einen gelben Spuckfleck auf der Schulter hatte? Im Geburtsvorbereitungskurs und in all den Büchern, die Daisy gelesen hatte, machten Babys, die gestillt wurden, kein Bäuerchen oder wenn doch, war es ein charmantes kleines Hicksen, begleitet von einem entzückenden farblosen Tröpfchen Spucke, das sich ganz leicht mit einem Feuchttuch wegwischen ließ. Das käme daher, dass Muttermilch
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