Was der Winter verschwieg (German Edition)
das Baby noch atmete? „Du kommst mir nicht wie der Typ vor, der stillt.“
„Was soll das denn heißen?“
„Nichts. Ist egal.“
„Nein, das interessiert mich wirklich.“
„Okay. Ich meine nur, dass es schwer ist, sich vorzustellen, dass du dir deine Brust entblößt und ein Baby stillst.“
„Nimm’s nicht persönlich“, erwiderte Sophie, „aber vor wenigen Monaten war es auch schwierig, sich vorzustellen, dass
du
das tust.“
„Man würde meinen, inzwischen wüsste ich es besser, als mich auf einen Streit mit einer Anwältin einzulassen.“
„Ich streite nicht, und ich bin keine Anwältin.“
„Auf mich wirkt es aber wie ein Streit.“
„Ach komm, lass uns nicht noch übers Streiten streiten.“
„Gute Idee.“
Sie verfielen in Schweigen. Vom Ende des Flurs erklangen leise Pieptöne und Soundeffekte von Max’ Spiel. Das rhythmische Saugen des Babys war zu hören. Nach ein paar Minuten wechselte Daisy die Seiten.
„Sieht so aus, als wenn wir uns entweder streiten oder gar nicht miteinander sprechen“, stellte sie leise fest.
„Sei nicht albern. Wir sprechen doch die ganze Zeit miteinander. Für dich habe ich gelernt, mit dem Instant Messenger umzugehen und SMS zu verschicken. Sprich mit mir, Süße. Ich will wissen, was in deinem Leben vor sich geht, was du für Pläne hast.“
Daisy war ein wenig auf der Hut. Das könnte gefährliches Terrain für sie beide sein. Ihre Mom hatte eine sehr ausgeprägte Meinung über Pläne. Eigentlich über alles, aber vor allem über die Wichtigkeit einer guten Ausbildung. Genau darüber hatten sie sich an dem Wochenende gestritten, an dem Daisy schwanger geworden war. Sie fragte sich, ob ihre Mom sich noch daran erinnerte.
Die Scheidung ihrer Eltern war gerade offiziell geworden, und ihre Mom hatte Daisy einen Vortrag darüber gehalten, dass sie nicht zulassen durfte, ihre Pläne davon beeinflussen zu lassen, und wie wichtig es gerade jetzt war, dass Daisy in der Schule Großartiges leistete.
„Großartiges“ war die Umschreibung für die Erwartung, dass Daisy nach der Schule nach Harvard ginge.
Daisy hatte ihre Mutter davon in Kenntnis gesetzt, dass sie nicht vorhatte, auf irgendein College zu gehen. Sie wusste, dass diese Aussage ihre Mutter am meisten treffen würde. Für ihre Mom war der Satz „Ich werde nicht aufs College gehen“ viel schlimmer, als zu sagen „Ich bin lesbisch“ oder „Ich habe mich einer Sekte angeschlossen“. Das Lustige war, Daisy hatte damals nicht einmal gewusst, ob sie es wirklich so meinte. Aber der Streit hatte ihr einen Grund geliefert, in die Luft zu gehen, aus dem Haus zu stürmen und ein ganzes Wochenende lang durchzudrehen, was mit einschloss, mehrere Male Sex mit Logan zu haben. Auch ungeschützt.
So gesehen musste sie ihrer Mutter wirklich dankbar sein. Ohne diesen Streit wäre Charlie nie geboren worden.
„Was ist so lustig?“, fragte Sophie.
Daisy schüttelte den Kopf. „Ich habe mich nur gefragt, ob dieser kleine Kerl und ich es uns auch irgendwann mal gegenseitig schwer machen.“
„Darauf kannst du wetten.“
Die Spannung löste sich ein bisschen. „Ich habe mich für einen Fotografiekurs an der SUNY in New Paltz eingeschrieben“, berichtete Daisy. „Die Vorlesungen fangen Montag an.“
„Das ist ja toll. Ich freu mich für dich.“
Wirklich? Daisy war sich nicht sicher. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ihre Mutter noch erwartet, dass Daisy auf ein berühmtes, weltweit anerkanntes College ging. Eine staatliche Hochschule konnte diesen Ansprüchen wohl kaum gerecht werden.
„Glaubst du, es ist zu früh? Manchmal habe ich Angst, dass ich Charlie aus egoistischen Gründen zu früh alleine lasse, so wie …“ Sie hielt mitten im Satz inne, doch es war zu spät.
„Wie ich es mit dir und Max gemacht habe?“, hakte ihre Mutter nach.
Daisy senkte den Blick und schaute auf die roten Löckchen auf Charlies Kopf. Früher hatte sie ihn oft stundenlang angeschaut, hatte den sanften Pulsschlag an seiner Fontanelle beobachtet, als wenn er eine Maßeinheit für die Augenblicke von Charlies Leben wäre. Jetzt konnte sie die weiche Stelle kaum noch sehen. Es fühlte sich an, als fehlte etwas. „Mom, es tut mir leid. Es ist mir einfach so herausgerutscht.“
„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin ja jetzt hier, okay?“
„Ja. Okay. Es ist nur … manchmal habe ich solche Angst, dass ich es mit ihm vermassle, dabei liebe ich ihn doch so.“
„Deshalb hast du ja solche
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