Was Die Liebe Naehrt
ohne
Behinderung durch starke Einflussnahme der Gesellschaft verwirklichen kann. Aber solche Freiheit hat auch Schattenseiten. Die Energie des Einzelnen
konzentriert sich auf die Entfaltung des eigenen Lebens. Der andere wird in erster Linie als einer gesehen, der mir nützt oder schadet. Im positiven Fall
ist er jemand, der mir helfen kann, mein eigenes Potenzial zu entwickeln. Er wird instrumentalisiert, das heißt: nur zur eigenen Selbstverwirklichung
benutzt. Auf der anderen Seite bleibt der Mensch ein soziales Wesen. Er sehnt sich nach Beziehung. Aber die Individualisierung hat ihn weggeführt von den
Menschen. Der Weg zu einer Beziehung ist also weiter als früher. Wenn in früheren Zeiten das Dorf eine Gemeinschaft bildete, fühlte man sich
geborgen. Sicher war eine solche Gemeinschaft oft auch einengend. Heute ist nicht nur dieEinengung weggefallen, sondern mit ihr auch die
Geborgenheit. Zugleich entdecken wir heute eine zunehmende Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Zu jemand, zu etwas zu gehören, ist auch im Zeitalter des
Individualismus ein unausrottbares Bedürfnis. Für junge Menschen ist es lebensentscheidend, dass sie sich einer Gruppe zugehörig fühlen. Dabei machen sie
sich oft wieder abhängig. Es ist nicht selten dann keine Zugehörigkeit im Sinne einer reifen Beziehung, sondern oft genug ein Aufgeben der eigenen
Identität zugunsten der Gruppenzugehörigkeit. Diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit steht manchmal auch zu Beginn einer Freundschaft zwischen Jungen und
Mädchen. Dann wird der andere dazu gebraucht, um der eigenen Einsamkeit zu entkommen. Aber in einem Klima des Brauchens und des Habens kann keine wirklich
tiefe Beziehung wachsen.
Das Paradox der vielen Möglichkeiten
Der Soziologe Sven Hillenkamp spricht in einem Essay zugespitzt vom »Ende der Liebe«. Seine Beobachtung: Unsere Gesellschaft bietet
ihren Mitgliedern scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, einander zu begegnen. Die Freiheit, Beziehungen einzugehen, ist gegenwärtig so groß wie nie. Und
trotzdem ist die Fähigkeit zur Liebe damit nicht gewachsen, sondern so gefährdet wie nie. Erstaunlich genug: Gab es früher festgefahrene kulturelle oder
unüberwindliche gesellschaftliche Unterschiede und Grenzen, so spielen sie heute keine entscheidende Rolle mehr. Frauensind anders als
in früheren Zeiten durch ihre Berufstätigkeit in die Gesellschaft integriert. Mobilität, räumlich und sozial, ist heute selbstverständlich. Auch die
Technik ist mit im Spiel. Die computergestützte Partnervermittlung über das Internet ist gebräuchlich. Ja, sie ist so verbreitet, dass sie zu einer
gewinnträchtigen Industrie geworden ist. Alle gesellschaftlichen Schichten werden davon erreicht, einfache Leute ebenso wie Akademiker. Eine größtmögliche
und zielgerichtete Auswahl von Sex- und Lebenspartnern wird durch Vorauswahl erleichtert bzw. ermöglicht. Millionen Suchende lassen sich in Datenbanken –
wie in Katalogen – registrieren. Die unverbindlichen Möglichkeiten, Beziehungen zu einer schier unendlichen Zahl von »Wunschpartnern« aufzunehmen,
scheinen unbegrenzt.
Doch ist das kein sicherer Weg zum Liebesglück. Und es steigt gleichzeitig auch die Zahl der Trennungen. Immer mehr Partner trennen sich immer
schneller. Und die ständige Suche ist bei vielen zu einem ausgesprochenen Suchtverhalten geworden. Die Sehnsucht nach dem »idealen Partner« verführt sie
zur Sucht. Sie müssen es immer neu »probieren«. Und oft suchen sie auch noch weiter, wenn sie schon einen Partner gefunden haben. Sie werden diesen
»idealen« Partner aber nie finden. »Sie sind auf einer endlosen Suche nach etwas Besserem, einem Besseren«, sagt Hillenkamp. Die unbegrenzten
Möglichkeiten führen diese Menschen nicht zum Glück. Mit den scheinbar unendlichen Wahlmöglichkeiten werden sie ihrer unendlichen Sehnsucht nicht
gerecht.
Der Tempodruck der Welt
Die Ansprüche der Konsumgesellschaft, aber auch die der Wirtschaftswelt mit ihrem Effizienzdruck sind nicht dazu geeignet,
Beziehungsqualität zu fördern. Wenn Menschen sich nahekommen wollen, geht das nicht zweckgerichtet und hektisch. Das Miteinander braucht Pflege – und das
heißt: Zeit. Viele, die Führungsaufgaben in einer Firma innehaben, erzählen mir, dass sie gar keine Zeit mehr für menschliche Beziehungen haben. Sie sind
so eingespannt in die immer mehr verdichtete Arbeit, dass kaum Raum bleibt, eine Beziehung zu pflegen oder eine
Weitere Kostenlose Bücher