Was die Toten wissen
wahrscheinlich niemals geändert. Selbst 1963 hatte sie das Gefühl, dass aus ihr nie eine Amerikanerin werden würde, aber sie hatte es ihrer Familie zuliebe getan.
»Weshalb reisen Sie in die Vereinigten Staaten?«, ratterte die Beamtin der Einwanderungsbehörde tonlos herunter. Sie war schwarz, über vierzig und so gelangweilt von ihrem Job, dass es sie scheinbar unendliche Mühe kostete, ihr beträchtliches Gewicht auf dem hohen, gepolsterten Hocker zu halten, den man ihr in die kleine Kabine gestellt hatte.
»Äh …« Das Zögern dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es war anscheinend genau der Kick, den die Frau an der Passkontrolle gebraucht hatte, eine Antwort, die nicht so hundertprozentig war, wie sie herauszuhören gelernt hatte. Plötzlich saß sie aufrecht, hellwach.
»Weshalb reisen Sie in die Vereinigten Staaten?«, wiederholte sie noch einmal, diesmal mit mehr Betonung.
»Also, ich …« Miriam fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass sie hier nicht ihre Lebensbeichte ablegen musste. Sie brauchte dieser Frau nicht zu erzählen, dass ihre Kinder vermisst und vermutlich vor dreißig Jahren ermordet worden waren, noch weniger jetzt, wo völlig unerwartet eins von ihnen vielleicht noch lebte. Sie musste ihr nichts von der Affäre mit Baumgarten, der Scheidung, dem Umzug nach Texas, nach Mexiko, Daves Tod erzählen. Sie musste nicht erklären, warum sie die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte oder warum sie seit der Scheidung wieder ihren Mädchennamen benutzte, oder auch nur, was sie dazu bewegt hatte, sich in San
Miguel de Allende niederzulassen. Das alles ging die anderen nichts an, zumindest bis jetzt. In den nächsten vierundzwanzig Stunden könnte sich das allerdings ändern und ihre Geschichte wieder öffentlich ausgeschlachtet werden.
Alles, was hier von ihr verlangt wurde, war: »Persönliche Gründe. Eine Verwandte hatte einen Autounfall.«
»Tut mir leid«, erwiderte die Frau. »Das ist ja schrecklich.«
»Es ist nichts Ernstes«, versicherte ihr Miriam, nahm ihre Taschen auf und ging zum Inland-Terminal, wo sie bis zum Flug nach Baltimore lähmende vier Stunden totschlagen musste.
»Es ist nichts Ernstes«, hatte ihr der Sergeant am Abend zuvor mitgeteilt, nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte. Als ob sie jemand in tiefes, eiskaltes Wasser getaucht hätte, hatte Miriam augenblicklich die Orientierung verloren, war wie gelähmt, die natürlichen Instinkte ausgeschaltet. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie sich wieder fing und das Naheliegende tat, auftauchte, dorthin, wo sie wieder Luft bekam. »Ich meine den Unfall«, stellte der Mann klar. »Die Behauptungen, die sie aufstellt, sind schon ernst zu nehmen.«
»Ich könnte morgen Abend da sein, wenn ich ganz früh am Morgen aufbreche«, sagte sie. Sie weinte, aber es war kein Weinen, das die Stimme oder die Gedanken beeinträchtigte. In Gedanken ging sie ihre Bekannten in San Miguel durch, Leute, die ihr einen Gefallen tun könnten und würden. Es gab ein ziemlich gutes Hotel, wo das Management daran gewöhnt war, den spontanen Wünschen und Bedürfnissen der Reichen nachzukommen. Sie könnten ihr bestimmt den Flug besorgen. Geld spielte keine Rolle.
»Es wäre besser, wenn Sie noch etwas warten würden... Wir sind uns noch nicht mal sicher …«
»Nein, nein, ich kann auf gar keinen Fall warten.« Dann kam es ihr. »Meinen Sie vielleicht, sie ist eine Betrügerin?«
»Wir finden sie sehr seltsam, aber sie weiß Dinge, die nur jemand mit intimen Kenntnissen des Falls wissen kann, und wir verfolgen ein paar neue Spuren, allerdings noch sehr vage.«
»Also, selbst wenn sie nicht meine Tochter ist, weiß sie bestimmt was über sie. Und was ist mit Sunny? Was hat sie von ihrer Schwester erzählt?«
Pause, eine gewichtige Pause, der sie entnahm, dass der Mann am anderen Ende der Leitung Familienvater war. »Sie wurde kurz nach der Entführung umgebracht, zumindest laut dieser Frau.«
In den über sechzehn Jahren, die Miriam in Mexiko verbracht hatte, hatte sie nicht ein einziges Mal Bauchschmerzen gehabt. Aber in diesem Moment spürte sie die spitzen Stiche in der Magengrube, die das Kennzeichen der turistas -Krankheit waren. Während der letzten dreißig Jahre hatte sie sich vielerlei vorgestellt – die Entdeckung eines Grabes, eine Verhaftung, das Ende der Geschichte und tatsächlich, ganz tief und im Verborgenen, die unmögliche Möglichkeit einer Wiedervereinigung -, doch so etwas war ihr
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