Was die Toten wissen
Lügnerin erwies. Aber sie verdrängte diesen Wunsch sofort wieder. Sie würde alles erzählen – die Wahrheit über sich selbst, so hässlich und unangenehm sie auch war, die Wahrheit über Dave und wie er sie behandelt hatte -, sie würde das alles sofort preisgeben, wenn sie dafür eine ihrer Töchter wiedersehen könnte.
Sie nahm sich ein paar Modezeitschriften und betrachtete sie als Hausaufgabe, als neue Textsorte für ihr zukünftiges Leben.
Kapitel 30
»Meinen Sie, das bereitet dem Ganzen ein Ende?«, fragte Heather, während sie aus dem Autofenster starrte. Sie hatte leise vor sich hin gebrummt, seit sie ins Auto gestiegen waren, ein Brummen, das in ein hohes Summen übergegangen war, als sie auf dem Highway fuhren. Kay war nicht ganz klar, ob die Frau merkte, was sie da tat.
»Bereitet dem Ganzen ein Ende?«
»Ob die Sache ausgestanden sein wird, wenn ich alles erzählt habe?«
Kay tat nie etwas vorschnell ab, noch nicht einmal eine nebensächliche Kleinigkeit, und diese Frage kam ihr besonders gewichtig vor. Wird es damit ein Ende haben? Gloria hatte nichts darüber verlauten lassen, als sie anrief und Kay den Befehl erteilte, Heather um 16 Uhr ins Polizeipräsidium zu bringen. Jetzt kamen sie auch noch zu spät, weil Heather sich nicht entscheiden konnte, was sie anziehen sollte. Sie war in der Hinsicht fast so bockig wie Grace und fast genauso schwer zufriedenzustellen. Letztendlich einigte sie sich auf eine hellblaue Bluse mit einem eng anliegenden Tweedrock, der wider Erwarten zu ihren klobigen schwarzen Schuhen passte, das Einzige
von ihrer eigenen Kleidung, was sie noch bereit war zu tragen. Dieser ganze Aufwand kam Kay komisch vor, weil Heather gar nicht den Eindruck machte, als ob sie großen Wert auf ihr Aussehen legte. Eigentlich eine Schande, denn sie war eine aparte Erscheinung, ausgestattet mit Dingen, die nur die Natur bescheren konnte – hohen Wangenknochen, einer gertenschlanken Figur und straffen Haut.
»Bei dem Jungen gibt es keine Veränderung, wenn es das ist, was Sie meinen. Es geht ihm schon sehr viel besser. Gloria meint, dass Sie deswegen nichts zu befürchten haben.«
»An ihn habe ich eigentlich gar nicht gedacht.«
»Oh.« Es ärgerte Kay, wie selten Heather an jemand anderen dachte. Immer ging es nur um sie. Aber das wäre die logische Konsequenz aus dem, was passiert war, vorausgesetzt, Kay hatte recht mit ihrer Theorie. Stan Dunham hatte offensichtlich beide Mädchen mitgenommen und dann Sunny umgebracht, weil sie mit fünfzehn bereits zu alt war, um ihn zu interessieren. Heather hatte er behalten, bis auch sie für einen Pädophilen ohne Nutzen war. Er hielt sie noch ein paar Jahre länger fest, bis sie schließlich so traumatisiert war, dass sie seine Geheimnisse nicht weitergeben würde. Wie das geschah, wollte Kay gar nicht so genau wissen. Er hatte sie irgendwie zu seiner Komplizin gemacht, sie dazu gebracht, dass sie sich ebenfalls schuldig fühlte. Oder ihr solch schreckliche Angst gemacht, dass sie sich niemals trauen würde, irgendwem davon zu erzählen. Kay fand es im Gegensatz zu den Kriminalbeamten nicht besonders abwegig, dass Heather in den ganzen sechs Jahren nicht versucht hatte davonzulaufen. Vielleicht hatte er ihr ja erzählt, ihre Eltern seien tot oder dass er mit ihnen abgesprochen habe, dass er sie und ihre Schwester zu sich nahm. Kinder waren so leicht zu beeinflussen, so formbar. Selbst Heathers beständige Weigerung, mit der gesamten Geschichte herauszurücken, erschien Kay logisch. Ihre neue Identität, welche auch immer, war überlebenswichtig. Warum sollte sie
sich jemandem anvertrauen, insbesondere Männern und Frauen, die in der gleichen Sparte tätig waren wie ihr Entführer?
»Meinen Sie, es gibt etwas Neues?«
»Neues?«
»Vielleicht haben sie die Knochen meiner Schwester entdeckt. Ich habe ihnen ja gesagt, wo sie sie finden.«
»So was wäre bestimmt in den Nachrichten gekommen, weil sich die Aushebung eines alten Grabes schwer geheim halten lässt. Aber selbst wenn es so wäre, würde es noch Wochen dauern, ihre Überreste zuzuordnen.«
»Wirklich? Wäre das nicht ein Fall von höchster Priorität, etwas, das man beschleunigen würde?« Sie schien ein wenig pikiert zu sein, dass man ihr nicht die Behandlung zuteilwerden ließ, die sie für angebracht hielt.
»Nur im Fernsehen ist das so.« Im Rahmen ihrer freiwilligen Arbeit für das Frauenhaus, wo sie auch Gloria begegnet war, hatte Kay eine forensische Anthropologin
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