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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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fünf Jahre und dann noch mal zehn.
    Es lag nicht nur am Bethany-Fall, nicht ausschließlich. Aber Gerechtigkeit wurde ihm immer unwichtiger. Der Gerichtssaal war nicht der Ort der Antworten. Es war die Welt von Epilogen, eine Bühne, auf der die Darsteller genau dieselben Fakten sammelten und sie zusammensetzten – wie hatte die junge
Frau es beschrieben? Ja, wie Legosteine. Hier ist meine Version, da ist seine. Welche gefällt Ihnen besser? Legosteine. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, sie zusammenzusetzen. Er dachte an die Stadtbücherei, in der früher zu Weihnachten prächtige Legohäuser ausgestellt waren, eigens von einem ortsansässigen Architektenbüro entworfen. Wenn er überlegte, wie selbstverständlich er einfach davon ausgegangen war, dass er später einmal mit seinen eigenen Kindern und dann mit seinen Enkeln an diesen Fenstern vorbeigehen würde. Aber seine Frau konnte keine Kinder bekommen. »Man kann immer welche adoptieren«, hatte Dave dazu nur gemeint, und Willoughby hatte darauf gedankenlos geantwortet: »Aber man weiß nie, was man kriegt.«
    Zu seiner Ehre hatte Dave nur geantwortet: »Das weiß man sowieso nie, Chet.« Er stand immer noch schwer in Daves Schuld, er hatte es nie wiedergutgemacht und würde auch keine Gelegenheit mehr dazu haben. Seine einzige Bemühung in dieser Richtung hatte zu diesem Debakel geführt – Miriam im Anflug, die Kriminalbeamten, die glaubten, sie hätten die Wissenschaft auf ihrer Seite; die meinten, sie könnten mittels einer Gerichtsverfügung beweisen, dass die Frau eine Lügnerin war, durch ihr Blut oder ihre Zähne – oder die DNA ihrer Mutter. Ja, es wäre wirklich besser, wenn die Lügengeschichte dieser Frau aufgedeckt werden könnte, bevor Miriam am Abend eintraf.
    »Ich begleite Sie«, sagte er schließlich. »Ich komme nicht mit rein, aber ich schaue von draußen zu und höre mit, und Sie können mich zurate ziehen, wann immer Sie es für nötig befinden. Aber ich brauche etwas zum Mittagessen, und danach pumpen Sie mich besser mit Koffein voll. Das wird ein langer Nachmittag, und ich mache normalerweise nach dem Essen ein Verdauungsschläfchen.«
    Er wusste, dass er ihr etwas anbot, worüber sie sich lustig machen konnte. Sie würde es wahrscheinlich hinterher in der
Abteilung herumerzählen. Er konnte nicht einfach sagen: Ich brauche einen Mittagsschlaf, er musste es ein Verdauungsschläfchen nennen. Aber das hatte schon immer zu ihm als Polizist dazugehört. Er hatte den anderen Polizisten Gelegenheit geboten, ihn hin und wieder durch den Kakao zu ziehen, ihnen einen Grund geliefert, sich über ihn lustig zu machen, seine Schwülstigkeit, seine Kinderstube zu verspotten.
    Ihr Argwohn ihm gegenüber, ihr Misstrauen gegen seine Beweggründe, Polizist zu sein, hatten ihn immer verwundert. Die besten Kriminalbeamten waren die, die ihren Job gern machten und die stolz darauf waren. Sie konnten meist woanders mehr Geld verdienen, aber sie hatten sich für die Polizeiarbeit entschieden. Chet tat nichts anderes, und seine Hingabe war noch reiner. Dennoch verstand es keiner. Letztendlich hatten sie kein Vertrauen zu jemandem, der nicht auf das Gehalt angewiesen war. Dieses Mädchen mit den roten Wangen war da keine Ausnahme. Im Moment brauchte sie seine Hilfe, zumindest glaubte sie das. Aber wenn alles vorbei wäre, würde sie hinter seinem Rücken über ihn herfallen. Dann sollte es eben so sein. Er würde es für Dave und für Miriam tun.
    Er fragte sich, wie sehr sie wohl gealtert war, um wie viel grauer ihre dunklen Haare sein würden, ob ihre schöne olivefarbene Haut in Mexiko verwelkt war.

Kapitel 29
    Die leeren Seiten im Pass machten Miriam bewusst, wie sesshaft sie in den letzten sechzehn Jahren gewesen war; sie war kaum aus San Miguel rausgekommen, geschweige denn aus Mexiko. Es war lange vor dem 11. September gewesen, dass sie das letzte Mal geflogen war, aber wahrscheinlich war auch davor schon die Einreise am Flughafen Dallas-Fort Worth nicht viel angenehmer gewesen. Sie wunderte sich nicht darüber,
dass sie herablassend behandelt wurde oder wie sie sie kritisch beäugten und ihr Gesicht mit dem Foto in ihrem Pass verglichen, der in einem Jahr ablief. Sie war 1963 amerikanische Staatsbürgerin geworden, weil es manches erleichterte. Entgegen landläufiger Meinung wurde einem nicht automatisch mit der Heirat die Staatsbürgerschaft zugesprochen. Wäre es nicht für die Mädchen gewesen, hätte sie ihre Staatsangehörigkeit

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