Was die Toten wissen
dass sie nicht die ist, für die sie sich ausgibt, aber dass Stan trotzdem darin verwickelt sein könnte.«
»Momentan ist alles offen. Unseren Erkenntnissen nach …« Sie hielt inne und ordnete ihre Gedanken. »Fälle wie dieser führen ein Eigenleben. Neue Informationen kommen hinzu, die Sachlage ändert sich. Je länger ich diese alten Akten durchforste und am Computer nach neuen Informationen suche, desto klarer wird mir eins: Erkenntnisse sind wie Legobausteine, wissen Sie? Es gibt unterschiedliche Arten, sie zusammenzufügen, aber einige Steine werden sich nie verbinden lassen, ganz gleich wie fest man draufhaut.«
Der Tee auf dem Tisch war inzwischen kalt geworden, aber er nahm trotzdem einen Schluck. Er hatte darauf bestanden, den Tee zu kochen, und ein großes Trara um zwei Tassen und zwei Teebeutel Lipton gemacht, und sie hatte seinem Wunsch nachgegeben, weil sie wahrscheinlich dachte, er sei einsam und wolle den Besuch in die Länge ziehen. Er war nicht einsam, weit gefehlt, und er wollte, dass sie keine Minute länger als nötig blieb. Sein Blick glitt hinüber zum Schreibtisch seiner Frau, und er hörte das klagende Gurren eines Vogels irgendwo im Dachgesims von Edenwald. Zu spät. Zu spät.
»Entscheidend ist«, sagte Willoughby, »dass derjenige, der die Mädchen mitgenommen hat, nicht unbedingt etwas von dieser Sache da weiß, und selbst wenn, erinnert er sich bestimmt nicht mehr daran. Es hätte für ihn keine Bedeutung gehabt. Aber ein Mädchen, ein Mädchen würde sich daran erinnern. Sie hätten sich daran erinnert, oder etwa nicht? Als Sie so alt waren?«
»Also, ich war eigentlich eher wie ein Junge, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, aber trotzdem, klar, ich würde mich daran erinnern.«
»Dann arbeiten Sie ganz gezielt darauf hin. Machen Sie sie
von ihren eigenen Worten betrunken. Mehr braucht es nicht. Aber das wissen Sie ja, stimmt’s? Sie waren vor der Geburt Ihres Kindes beim Morddezernat?« Er merkte, wie er errötete, als ob es unhöflich wäre, diese Frau daran zu erinnern, dass sie Körperfunktionen besaß, dass sie sich fortgepflanzt hatte. »Sie wissen schon, wie man eine Vernehmung durchführt. Ich glaube sogar, dass Sie das wunderbar machen werden.«
Jetzt war es an ihr, kalten Tee zu trinken, ein bisschen Zeit zu gewinnen. Als er noch jünger war, hätte er sich wahrscheinlich gar nichts aus ihr gemacht. Mit zwanzig hatten ihm die »höheren Töchter« gefallen, wie es seine snobistische Mutter wahrscheinlich ausgedrückt hätte, die gertenschlanken, schon fast zerbrechlichen Frauen, Typen wie Katherine Hepburn, die wie Models mit vorgeschobenen Becken gingen und ganz spitze Hüftknochen hatten. Evelyn war solch eine Frau gewesen, elegant in jeder Hinsicht. Aber das Weiche hatte auch seine Vorteile, und diese Nancy Porter hatte solch ein puppengleiches Gesicht, mit diesen roten Wangen und blassblauen Augen. Bauernfamilie, hätte seine Mutter nur dazu gemeint, aber sein Stammbaum hätte gut und gern ein paar robustere Gene vertragen können.
»Wir – das heißt Sergeant Lenhardt, der Vorgesetzte von Infante, der Polizeichef und ich – wir dachten, dass Sie dabei sein sollten.«
»Dabei zusehen, meinen Sie?«
»Vielleicht auch am Gespräch teilnehmen.«
»Ist das rechtens?«
»Es gibt Fälle, in denen pensionierte Polizeibeamte noch für das Dezernat arbeiten. So eine Art inoffizieller Beraterauftritt. Das können wir veranlassen.«
»Liebe …«
»Nancy.«
»Ich wollte nicht chauvinistisch sein, aber ich habe für einen Moment Ihren Namen vergessen und wollte es verbergen. So
geht das manchmal, wissen Sie? Ich bin über sechzig. Ich vergesse vieles. Ich bin nicht mehr ganz so flink wie früher. Ich erinnere mich nicht mehr an jede Kleinigkeit. Sie kennen den Fall inzwischen besser als ich. Ich kann nichts dazu beisteuern.«
»Ihre bloße Anwesenheit könnte dazu beitragen, dass sie es sich zweimal überlegt, ob sie uns was vormachen will. Infante ist noch in Georgia, und die Mutter soll bereits heute Abend eintreffen …«
»Miriam kommt? Sie haben Miriam gefunden?«
»In Mexiko. Genau, wie Sie gesagt haben. Sie hatte ein Bankkonto in Texas, von dort haben wir die Adressdaten. Lenhardt hat sie gestern Abend ausfindig gemacht. Wir haben ehrlich gesagt nicht so schnell mit ihr gerechnet. Lenhardt hat sogar versucht, es ihr auszureden. Und wenn sie erst einmal hier ist, sehe ich nicht, wie wir sie fernhalten könnten. Ursprünglich wollten wir uns mit
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