Was die Toten wissen
nie in den Sinn gekommen. Eine, aber die andere nicht? Es kam ihr vor, als würde ihr Körper unter dem Widerstreit der Gefühle zusammenbrechen. Heather am Leben und Sunny tot. Sie blickte in den Spiegel über der schlichten Kiefernkommode, rechnete damit, dass ihr Gesicht gespalten wäre, die Maske von Komödie und Tragödie in einem. Aber sie sah aus wie immer.
»Ich komme, so schnell wie möglich.«
»Das ist natürlich Ihre Entscheidung, aber vielleicht warten Sie lieber noch, bis wir einige der Hinweise überprüft haben. Einer meiner Detectives ist gerade in Georgia und geht dort einer Spur nach. Es wäre schade, wenn Sie den langen Weg machen …«
»Sehen Sie mal, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die eine: Sie ist meine Tochter, in diesem Fall kann es gar nicht schnell genug gehen. Die andere: Sie ist jemand, der etwas über meine
Tochter weiß, und nutzt ihr Wissen für ihre Zwecke aus. Wenn das so ist, will ich sie zur Rede stellen. Außerdem würde ich es wissen. In dem Augenblick, wo ich sie sehe, werde ich es wissen.«
»Dennoch, auf einen Tag hin oder her kommt es doch nicht an, und wenn wir sie vorher als Lügnerin entlarven …«
Er wollte nicht, dass sie kam, warum auch immer, jetzt noch nicht, was bei Miriam nur dazu führte, dass sie noch wilder entschlossen war, so schnell wie möglich anzureisen. Dave war tot, sie trug die Verantwortung. Sie würde sich so verhalten, wie er es getan hätte, wenn er noch da wäre. Das war sie ihm schuldig.
Jetzt, kaum vierundzwanzig Stunden später, während sie ihre Reisetaschen an den fürchterlichen Flughafen-Shops vorbeizog, kamen Miriam Zweifel an ihrer ursprünglichen Gewissheit. Was, wenn sie es nicht sagen könnte? Was, wenn ihr Bedürfnis, ihre Tochter lebend wiederzusehen, ihre mütterlichen Instinkte überdeckte? Was, wenn mütterliche Gefühle Blödsinn waren? Es hatte immer jemanden gegeben, der Miriams Mutterschaft nicht anerkennen wollte, Leute, die sie gedankenlos und gefühllos herabsetzten, weil sie keinen biologischen Anspruch auf die Kinder hatte, die sie großzog. Was, wenn sie recht hatten und es Miriam an einer entscheidenden Grundlage fehlte? War bereits die bloße Tatsache, dass sie sich jahrelang mit Kindern verbündet hatte, die nicht ihre eigenen waren, ein Beweis dafür, wie beeinflussbar sie von Natur aus war? Sie erinnerte sich an eine Katze, die sie einmal gehabt hatten, eine gescheckte Mäusefängerin. Sie war sterilisiert worden und hatte nie Junge bekommen. Aber eines Tages hatte sie eine kleine ausgestopfte Robbe von Heather entdeckt, ein widerwärtiges Ding aus echtem Robbenfell, ein Geschenk von Daves ahnungsloser Mutter. Wäre die Robbe nicht von seiner Mutter gewesen, hätte Dave Heather nie erlaubt, sie zu behalten. Er hatte Miriam dazu gezwungen, ihren Biberfellmantel
wegzugeben, ein Überbleibsel aus Kanada, das als Erbstück ihrer Großmutter viel eher zu rechtfertigen gewesen wäre. Aber für Florence Bethany wurden immer Ausnahmen gemacht. Eleanor, die Katze, entdeckte die Spielzeugrobbe und adoptierte sie, schleifte sie am Kragen herum, wie sie es mit ihrem eigenen Nachwuchs getan hätte, putzte sie unentwegt und fauchte jeden an, der versuchte, sie ihr wegzunehmen. Nach und nach zerstörte sie ihr »Baby« natürlich, indem sie mit ihrer nassen, rauen Zunge alle Haare ableckte, bis nur noch ein wirklich scheußliches Etwas übrig blieb, ein fötusartiges Stück Stoff.
Was, wenn Miriams Instinkte denen einer gescheckten Mausefängerin gleichzusetzen waren? Nachdem sie gelernt hatte, die Kinder einer anderen Frau wie ihre eigenen zu lieben, würde sie jedes Kind als ihr eigenes betrachten, wenn sie nur genug daran glaubte? Würde sie eine ausgestopfte Robbe am Kragen packen und so tun, als wäre es ihr Kätzchen?
Sunny hatte zuletzt immer mehr Fragen über ihre »richtige« Mutter gestellt. Damals war sie ein typischer Teenager gewesen, so launisch und reizbar, dass alle in der Familie sie Stormy nannten. Sie kam der Wahrheit ziemlich nahe und machte dann wieder einen Rückzieher. Sie wollte es wissen, aber sie konnte es noch nicht richtig begreifen. »War an dem Unfall nur ein Auto beteiligt?«, fragte sie. »Wodurch wurde er verursacht? Wer ist gefahren?« Aus den netten, gut gemeinten Geschichten, die sie so lange aufrechterhalten hatten, waren jetzt schlicht und ergreifend Lügen geworden, und weder Miriam noch Dave wussten mit dieser Veränderung umzugehen. In den Augen eines Teenagers waren Lügen die
Weitere Kostenlose Bücher