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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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größte Sünde überhaupt. Hätten sie Sunny ihre Heuchelei und ihren Betrug gestanden, wäre es für sie unerträglich gewesen. Aber letztendlich musste sie es irgendwann erfahren, wenn auch nur, weil in dem Fehlverhalten ihrer Mutter eine nüchterne Lehre steckte, eine Warnung, dass es einen das Leben kosten konnte,
wenn man sich seinen Eltern nicht anvertraute, wenn man falschen Stolz an den Tag legte, sich einen Fehler nicht eingestand. Wenn Sally Turner sich in ihrer Not an ihre Eltern gewandt hätte, wären Sunny und Heather wahrscheinlich nie die Bethany-Mädchen geworden. Und sosehr Miriam diese Vorstellung auch zuwider war, wusste sie doch zugleich, dass es zu ihrem Besten gewesen wäre. Nicht wegen der Biologie, sondern weil sie wahrscheinlich noch am Leben wären, wenn ihre leibliche Mutter überlebt hätte.
    Die Polizei hatte sich offenbar ausdauernd und sehr intensiv mit der Familie des Vaters beschäftigt, aber die paar restlichen Verwandten hatten weder mitbekommen, was passiert war, noch schienen sie sich für die Kinder sonderlich zu interessieren. Heathers und Sunnys Vater war Waise gewesen, und die Tante, bei der er aufgewachsen war, mochte Sally so wenig leiden wie Estelle und Herb den jungen Mann. Leonard hieß er, oder kurz Leo. So etwas in der Art. Miriam hätte nicht sagen können, welche der Demütigungen am schlimmsten gewesen war, aber das rege Interesse an der Herkunft der Mädchen missfiel ihr noch mehr als das öffentliche Eingeständnis ihrer eigenen Verfehlung. Und Dave, der normalerweise darauf bestand, dass jedem Hinweis nachgegangen wurde, selbst den hirnrissigsten Theorien, hatte diese Ermittlungsrichtung wahnsinnig gemacht. »Sie sind unsere Töchter«, hatte er Chet immer wieder mitgeteilt. »Das hier hat nichts mit den Turners zu tun oder mit diesem Idioten, der nichts weiter getan hat als das, was ein streunender Hund eben tut. Sie vergeuden unsere Zeit.« Auf dieses Thema reagierte er fast hysterisch.
    Einmal, vor Jahren, hatte jemand – eine angebliche Freundin bis zu diesem Zeitpunkt, aber, wie sich dabei herausstellte, keine wirkliche – Miriam gefragt, ob die Kinder vielleicht doch von Dave sein könnten, ob er etwa die Tochter der Turners während einer langen, heimlichen Affäre geschwängert habe und, als sie an was auch immer starb, sich alle verbündet
und sich diese vertrackte Geschichte ausgedacht hätten. Miriam hatte sich bereits daran gewöhnt, dass niemand fand, sie und ihre Töchter sähen sich ähnlich, aber sie fand es merkwürdig, dass diese Frau meinte, Dave in den Mädchen wiederzuerkennen. Zugegeben, seine Haare waren ebenfalls hell, aber lockig und wuschelig. Ja, er hatte helle Haut, aber braune Augen und eine völlig andere Figur. Dennoch kam immer wieder jemand auf die Idee, die Mädchen würden ihrem Vater ähneln, was eine unangenehme Situation heraufbeschwor, weil Miriam die Mädchen nicht in deren Beisein verleugnen wollte, aber sie konnte diese Fehlinformation auch nicht einfach auf sich beruhen lassen. Sie kommen nach mir , hätte sie am liebsten gesagt, sie kommen hundertprozentig nach mir . Sie sind meine Töchter, und ich habe sie geformt. Sie werden noch bessere Ausgaben von mir sein, stärker und selbstbewusster. Sie werden später einmal bekommen, was sie wollen, ohne wie die Frauen meiner Generation als egoistisch oder gierig abgestempelt zu werden.
    Vier Stunden. Vier Stunden, die sie auf dem Flughafen totschlagen musste, und dann noch mal fast drei Stunden Flug, und sie war bereits seit fast acht Stunden unterwegs. Im Buchladen gab es gute Bücher, aber sie konnte sich nicht vorstellen, sich auch nur auf eines davon zu konzentrieren, und die Zeitschriften waren ihr zu banal, zu weit weg von ihrer eigenen Welt. So wie sie lebte, ohne Satellitenempfang, kannte sie die meisten Schauspielerinnen noch nicht einmal. Ihre Gesichter und Körper erschienen ihr erschreckend austauschbar, unterschieden sich so wenig voneinander wie Madame-Alexander-Sammelpuppen. Die Schlagzeilen posaunten Privatangelegenheiten heraus – Verlobung, Scheidung, Geburten. Das ist Chets Verdienst gewesen , dachte sie. Er hatte längst nicht alles an die Medien weitergegeben. Wie brav und artig die Reporter sich verhalten hatten, wie umsichtig. Jetzt würde alles auffliegen – die Adoption, ihre Affäre, ihre Geldsorgen. Alles.
    Vielleicht auch nicht, dachte Miriam. Vielleicht auch nicht.
Fast wäre es ihr lieber gewesen, wenn die Frau in Baltimore sich als

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