Was die Toten wissen
hin und her drehte, fasste sie den Entschluss, sich einen Job zu suchen. Natürlich konnten sie das Geld gut gebrauchen, hatten es sogar bitter nötig, aber das war für sie weniger ausschlaggebend als die Vorstellung, als betrunkene und nutzlose Hausfrau zu enden, die mit einer Fahne den Kindern zuhörte, wenn sie am Nachmittag von der Schule nach Hause kamen und von ihrem Tag berichteten.
Jeff kam näher und fasste sie unters Kinn, seine Hand immer noch kalt von dem Eiskübel, aber sie zuckte nicht vor ihm zurück. Als sie anfingen, sich zu küssen, stießen ihre Zähne aneinander. Es war gerade so, als ob sie sich noch nie geküsst hätten. Schon witzig, wie sie sich an den beengtesten und ungemütlichsten Orten geliebt hatten – in einer Abstellkammer im Büro, einer Restauranttoilette, auf dem Rücksitz seines kleinen Sportwagens -, und jetzt, wo sie Platz hatten, und im Vergleich zu dem, was sie gewohnt waren, auch alle Zeit der Welt, konnten sie es kaum ungeschickter angehen.
Sie versuchte, ihren Verstand auszuschalten und sich Jeff hinzugeben, und allmählich klappte es. Es war was? Das siebte Mal, und sie war immer noch fasziniert, wie viel Spaß es ihr machte. Mit Dave war Sex schon immer eine etwas triste Angelegenheit gewesen, als ob er dabei sein ausgeprägtes Verständnis für Frauen unter Beweis stellen müsse, was dazu führte, dass er den Akt für beide freudlos gestaltete und sie endlos mit ernst gemeinten Fragen löcherte. Sokratischer Sex, wie Miriam es nannte. Wie gefällt dir das? Wie ist dieses? Oder wenn ich es so mache? Wenn Miriam versucht hätte, es ihren Freundinnen zu beschreiben – falls sie welche gehabt hätte, hatte sie aber nicht -, hätte es genervt und undankbar geklungen. Sie hätte ihnen nicht vermitteln können, dass Dave mit der Vorgabe, ihm läge nichts näher als ihr Vergnügen, in Wirklichkeit dafür sorgte, dass sie keinen Spaß hatte. Er hatte sie anscheinend immer bemitleidet, ein bisschen wenigstens, und sich selbst als Geschenk betrachtet, das er ihr überreichte, dem dunklen, behüteten Mädchen aus dem Norden.
Jeff wirbelte sie herum, streckte ihre Hände nach vorne, auf das noch frisch gemachte Bett, verschränkte seine Finger mit den ihren und drang von hinten in sie ein. Das war für Miriam nicht neu – Dave war immer ein pflichtbewusster Schüler des Kamasutras gewesen -, aber Jeffs Schweigen und seine Direktheit ließen alles in einem neuen Licht erscheinen. Eigentlich konnte sie in dieser Position gar nicht kommen, jedenfalls hatte Dave das immer gemeint. Ja, Dave erklärte ihr sogar, wie ihr eigener Körper funktionierte! Dennoch passierte es mit Jeff des Öfteren. Aber nicht sofort, noch nicht gleich. Sie hatten noch den ganzen Nachmittag und ließen es langsam angehen. Oder versuchten es zumindest.
Als sie anfing zu arbeiten, hatte Miriam eine Affäre nicht auf dem Plan gehabt, noch nicht einmal einen Büroflirt. So viel war gewiss. Sex war Miriam nicht wichtig, das hatte sie sich wenigstens eingeredet, als sie sich entschied, Dave zu heiraten.
Wie damals üblich, hatte sie nicht viel Erfahrung mit Männern gehabt, nicht nur weil sie Angst hatte, in Verruf zu kommen, sondern auch weil sie nicht schwanger werden wollte. Früher gab es noch nicht so viele Verhütungsmittel wie heute, und man kam sowieso nur schwer an solche Dinge heran. Als sie Dave kennenlernte, war Miriam trotzdem keine Jungfrau mehr. Beileibe nicht, sie war zweiundzwanzig und bereits einmal ein halbes Jahr lang verlobt gewesen, mit ihrem Freund aus dem College, mit dem sie wunderbaren Sex gehabt hatte. »Irre«, wie man das heute nennen würde. Als ihr Verlobter allerdings ohne hinlängliche Erklärung plötzlich verschwand und damit die unheilvollen Prophezeiungen ihrer Mutter wahrmachte, von Kühen, bei denen es Milch für umsonst gab, musste Miriam leider zugeben, dass sie sich in ihm getäuscht hatte.
Sie nannten es einen Nervenzusammenbruch, und Miriam fand den Ausdruck äußerst treffend. Es war, als ob ihr gesamtes Nervensystem verrücktspielte. Sie litt unter Krämpfen und war völlig aus dem Lot, die grundlegendsten Körperfunktionen – Schlafen, Essen, Verdauen – waren unberechenbar geworden. Die erste Woche etwa schlief sie nicht mehr als vier Stunden und aß überhaupt nichts. Dann stand sie nur auf, um wie eine Schwangere eigenartige Sachen in sich hineinzustopfen – Unmengen an roher Brownie-Backmischung, pochierte Eier mit Eiskrem, Karotten mit Sirup. Sie war vom
Weitere Kostenlose Bücher