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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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leiden wegen des Streits. Die Kinder im Bus.«
    »Aber die wohnen nicht hier«, sagte Heather. »Die Graffitis sind von jemandem, der hier wohnt.«
    »Ich bin die Einzige aus dem Viertel, die auf die Rock-Glen-Schule geht. Das war ja das Problem, erinnerst du dich nicht mehr? ›Wir waren im Recht, aber sie in der Überzahl.‹ Das Mehrheitsprinzip.«
    Heather hatte keine Lust auf diese Familiengeschichte, bei der sie keine Rolle spielte. Gelangweilt setzte sie sich auf die Bank, öffnete die Handtasche, untersuchte den Inhalt und summte dabei vor sich hin. Der Bus würde erst in fünfzehn Minuten kommen, aber Sunny wollte ihn auf keinen Fall verpassen.
    Beim Kampf um die Schulbusstrecke war Sunny zum ersten Mal grobe Ungerechtigkeit widerfahren, und sie hatte die bittere Erfahrung machen müssen, dass Geld mehr zählt als
Gerechtigkeit. Die meisten Schüler, die mit Sunny im Bus fuhren, wohnten weiter weg, am anderen Ende der Forest Park Avenue noch über den Garrison Boulevard hinaus. Ihre Eltern schickten sie nicht auf die nächstgelegene Schule, auf die nur Schwarze gingen, sondern auf die Rock Glen im Südwesten der Stadt, wo fast nur Weiße wohnten. Ein privater Busdienst, für den alle Eltern gemeinsam aufkamen, brachte sie dorthin. Die Haltestelle, an der Sunny einstieg, das Wartehäuschen an der Forest Park Avenue, war am Morgen der letzte Halt und am Nachmittag der erste. Zwei Jahre lang erschien das allen Beteiligten logisch. Dann plötzlich nicht mehr.
    Letzten Sommer fingen die Eltern, die am anderen Ende der Strecke wohnten, an zu murren, dass die Fahrt für ihre Kinder viel kürzer wäre, wenn der Bus nicht am unteren Ende der Forest Park Avenue halten müsste, um Sunny einzusammeln. Plötzlich hieß es: »Alles nur wegen dieser einen Schülerin.« »Wegen einer einzigen!« »Warum soll eine einzige Schülerin allen anderen so viele Unannehmlichkeiten bescheren?« Sie drohten damit, sich nach einem anderen Fahrdienst umzusehen und dem Busunternehmen »diese Schülerin« zu überlassen, was natürlich niemals ausreichen würde, die Unkosten abzudecken. Sunnys Eltern empörten sich zwar, aber sie konnten nichts dagegen tun. Wenn sie weiterhin den Busdienst in Anspruch nehmen wollten – woran kein Weg vorbeiführte, da sie beide arbeiteten -, mussten sie sich auf einen Kompromiss einlassen: Der Bus sollte am Nachmittag die Strecke andersherum fahren. Also musste Sunny fortan jeden Nachmittag im Bus an ihrem Viertel vorbeibrausen, während der bis zum Anfang der Strecke durchfuhr und die Schüler in umgekehrter Reihenfolge absetzte, bevor er wieder die Forest Park Avenue zurückzuckelte. Die anderen Schüler hätten einfach dankbar sein können, dass ihre Eltern gesiegt hatten, aber dem war nicht so. Jetzt konnten sie Sunny noch weniger leiden, weil ihre Eltern die anderen Eltern als Rassisten beschimpft hatten.

    »N. L.« zischte sie einer der größeren Jungs an. »Du und deine Eltern – ihr seid N. L.« Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, aber es klang beängstigend.
    Im Gegensatz zum Busunternehmen Mercer ließen sich die öffentlichen Verkehrsbetriebe nicht schikanieren. Wenn es bis zum Security Square mit Zwischenstopps fünfundzwanzig Minuten dauerte, dauerte es auch fünfundzwanzig Minuten wieder zurück. Die MTA, Marylands öffentlicher Verkehrsbetrieb, war egalitär , ein Wort, das sie bei ihrem Vater aufgeschnappt hatte und ganz besonders mochte, weil es sie an Die drei Musketiere mit Michael York erinnerte. Nächstes Jahr, wenn Sunny zur Western High School gehen würde, würde sie mit öffentlichen Bussen fahren. Um sie darauf vorzubereiten, hatten ihr ihre Eltern schon mal die eine oder andere Probefahrt erlaubt – ins Stadtzentrum in die Howard Street, wo die großen Kaufhäuser waren.
    Aber Heather, die noch nie mit einem öffentlichen Verkehrsmittel gefahren war, hüpfte aufgeregt auf der Holzbank auf und ab, in der einen Hand das Fahrgeld, mit der anderen umklammerte sie ihre neue Handtasche. Sunny hatte auch eine Tasche aus dem Laden ihres Vaters dabei, aus Makramee. Die Taschen bekamen sie nicht für umsonst, auch wenn die anderen Kinder das glaubten. Wenn es sich nicht um ein Geschenk handelte wie bei Heathers Tasche, dann mussten sie den Großhandelspreis dafür zahlen, denn ihr Vater behauptete, seine »Margen« ließen keine Geschenke zu.
    Sunny musste an ihren Schreibmaschinenkurs denken, bei dem sie vermutlich durchfallen würde. Ihr Problem war, dass sie bei den Tests

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