Was die Toten wissen
April geboren waren. Sie konnte kaum erwarten, was darin stand. Und nächste Woche würde es eine Party geben, mit einer Devil’s-Food-Torte aus der Konditorei, Schokoladenkrem mit weißem Zuckerguss und blauen Rosen verziert, und sie würden in den Westview Lanes bowlen gehen. Vielleicht sollte sie sich etwas Neues zum Anziehen leisten. Nein, noch nicht. Aber sie würde ihre Handtasche mitnehmen in die Mall, ein Vorab-Geburtstagsgeschenk aus dem Laden ihres Vaters. Es waren eigentlich mehrere Taschen, die man an demselben hölzernen Gestänge befestigen und damit die Tasche passend zum Rest auswählen konnte. Sie hatte sich Jeansstoff mit roten Zackenlitzen ausgesucht, kariertes Madrasgewebe und einen mit großen orangefarbenen Blumen bedruckten Stoff. Ihr Vater hatte nicht vorgehabt, die Taschen ins Sortiment zu nehmen, doch ihrer Mutter war aufgefallen, wie Heather die Muster studiert hatte, und sie hatte ihn gedrängt, die Taschen auf die Bestellliste im Februar zu setzen. Sie waren in diesem Frühjahr der Renner in seinem Laden, aber das schien ihren Vater nur noch mehr zu verdrießen.
»Modequatsch«, sagte er. »In einem Jahr willst du nichts mehr davon wissen.«
Na klar , dachte Heather. Nächstes Jahr würde es eine andere Tasche oder ein anderes Oberteil sein, was man unbedingt haben musste, und ihr Vater sollte froh darüber sein. Obwohl sie erst elf war, hatte sie bereits kapiert, dass man keinen Laden erfolgreich führen konnte, wenn die Leute nicht jahrein, jahraus etwas Neues kauften.
Den Tränen nahe beobachtete Sunny, wie ihr Vater aus der Küche ging. Sie sagte kein Wort. Er war heute Morgen recht merkwürdig gewesen – hatte Pfannkuchen gebacken, Heather WCBM hören lassen, mitgesungen und sogar die Songs kommentiert.
»Das gefällt mir«, sagte er von jedem Stück. »Das Mädchen …«
»Minnie Riperton«, ergänzte Heather.
»Sie zwitschert wie ein Vogel, findest du nicht auch?« Er versuchte, die kaskadierende Tonfolge nachzusingen, und Heather lachte ihn dafür aus, aber Sunny war einfach nur unbehaglich zumute. Kein Vater sollte Songs wie »Lovin’ You« kennen, und schon gar nicht mitsingen. Außerdem war ihr Vater ein großer Lügner. Keiner der Songs gefiel ihm. Allein die Tatsache, dass ein Song in den Top 40 – sprich etwas populärer – war, hieß für ihren Vater im Prinzip, dass man es gleich vergessen konnte. In seinem Arbeitszimmer hörte er Jazz, Bob Dylan und die Grateful Dead über Kopfhörer, die in Sunnys Ohren genauso undefinierbar und nichtssagend klangen wie Jazz. Sunny fand es schräg, mit ihrem Vater und ihrer Schwester Radio zu hören, als ob die anderen vor ihren Augen ihr Tagebuch lesen würden, als ob sie wüssten, was ihr spät in der Nacht durch den Kopf ging, wenn sie im Bett mit einem Ohrstöpsel heimlich Musik hörte. Ihr Geschmack wechselte, aber manche Liebeslieder hauten sie immer noch um: »You Are So Beautiful«. »Poetry Man«. »My Eyes Adored You«. Sie rutschte
nervös auf ihrem Stuhl herum, schnitt ihre Pfannkuchen in immer kleinere Stücke, wäre am liebsten aufgesprungen und hätte das Radio ausgestellt.
Als Ringo mit dem »No No Song« anfing, erledigte das ihr Vater für sie und sagte: »Das geht auf keine Kuhhaut. Wenn ich daran denke …«
»Was denn, Daddy?«, schleimte Heather sich bei ihm ein.
»Nichts. Was haben meine Mädchen denn heute vor?«
Da platzte Heather heraus: »Sunny will in die Mall.« Sie piepste es in dieser stockenden Kleinkind-Sprache, mit einer Stimme, aus der sie längst herausgewachsen war, einer Stimme, die nie ihre gewesen war. Wenn Heather eine neue Freizügigkeit für sich einforderte – beispielsweise die Erlaubnis, mit dem Fahrrad zu einem der neuen Läden in Woodlawn zu fahren -, sprach sie mit ihrer normalen Stimme. Doch wenn sie Sunny auflaufen lassen wollte, benutzte Heather diesen Kleinkind-Tonfall. Dabei hatte ihre Mutter sie längst durchschaut. Sunny hatte mitbekommen, wie ihre Mutter am Telefon erzählte, dass Heather mit ihren elf Jahren manchmal wie eine Vierzigjährige reden würde. Sunny hätte zu gerne gewusst, für welches Alter sie durchging, aber es kam nicht zur Sprache.
Sunny stellte ihren Teller zu dem Stapel, den ihr Vater auf das Ablaufbrett gestellt hatte. Sie suchte nach einem guten Grund, warum sie den Abwasch jetzt nicht machen konnte, es war ihr jedoch bewusst, dass es ihrer Mutter gegenüber unfair war. Die würde nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen und einen
Weitere Kostenlose Bücher