Was die Toten wissen
spiele ich donnerstagnachmittags drüben in Elkridge Golf, aber dieser neuerliche plötzliche Wintereinbruch hat uns dazu veranlasst, abzusagen. Höre ich da den New Yorker bei Ihnen heraus?«
»Ein bisschen vielleicht noch. Das meiste haben sie mir in den zwölf Jahren, die ich hier lebe, ausgetrieben. Noch zehn Jahre, und ich rede wie einer von hier.«
»Der typische Baltimore-Akzent ist natürlich ein Dialekt der Arbeiterklasse. Er kommt dem Cockney sehr nahe. In Baltimore gibt es allerdings auch Familien, deren Geschichte vier Jahrhunderte zurückreicht, und ich garantiere Ihnen, die sprechen nicht so.«
Es war offen gesagt ziemlich arrogant und daneben, so etwas zu erzählen, auf vornehme Art zu sagen, meine Familie ist alt und reich, nur falls die beiläufige Erwähnung des Elkridge
Country Club noch nicht ausgereicht hätte. Infante fragte sich, ob der Mann als Detective auch so aufgetreten war, so doppeldeutig, nicht ganz einwandfrei, ein Cop zwar, aber einer, der seine Kollegen wissen ließ, dass er es nicht nötig hatte.
Wenn das der Fall gewesen war, hatten sie ihn bestimmt verachtet.
Willoughby ließ sich in einem Armsessel nieder, der offensichtlich sein Stammplatz war. Infante hockte auf dem Rand des Sofas, das ganz eindeutig eine Frau ausgesucht hatte – altrosa und höllisch unbequem. Dennoch wusste Infante sofort, dass hier schon länger keine Frau mehr gewohnt hatte. Die Wohnung war ordentlich und gepflegt, aber es fehlte ganz eindeutig etwas. Geräusche, Gerüche. Und dann waren da die Kleinigkeiten, wie die Schweißkante am Sessel. Er kannte das Gefühl aus seiner eigenen Wohnung. Man merkte immer gleich, wenn es eine Frau im Haus gab.
»Den Aufzeichnungen zufolge haben Sie die Bethany-Fallakte. Ich hatte gehofft, dass ich sie mitnehmen kann.«
»Ich habe die …« Willoughby schien verstört. Infante hoffte, dass er nicht bereits leicht senil war. Er sah großartig aus, aber vielleicht war das der Grund für den frühen Umzug nach Edenwald gewesen. Doch die braunen Augen blickten sofort wieder wach und interessiert. »Hat sich etwas getan?«
Infante hatte mit dieser Frage gerechnet und sich darauf vorbereitet. »Vermutlich nicht, aber wir haben da eine Frau im St. Agnes.«
»Die behauptet, dass sie etwas weiß?«
»Ja.«
»Gibt sie vor, jemand Bestimmtes zu sein?«
Infantes erster Impuls war, zu lügen. Je weniger davon wussten, desto bester. Wie konnte er sichergehen, dass dieser Mann die Nachricht nicht in ganz Edenwald verbreitete und es als willkommene Gelegenheit betrachtete, die glorreichen alten Tage wiederauferstehen zu lassen? Dann wiederum war
Willoughby der ursprüngliche Hauptermittler in dem Fall gewesen. Ganz gleich, was in der Akte stehen mochte, es war durchaus möglich, dass er zusätzliche wertvolle Einblicke liefern könnte.
»Kein Wort davon nach draußen …«
»Selbstverständlich nicht«, mit einem kurzen Nicken eifrig versprochen.
»Sie behauptet, die Jüngere zu sein.«
»Heather.«
»Richtig.«
»Und erzählt sie auch, wo sie war, was sie gemacht hat, was mit ihrer Schwester ist?«
»Sie sagt so gut wie gar nichts mehr. Sie hatte nach einer Anwältin verlangt, und nun halten uns beide hin. Die Frau war in einen Autounfall verwickelt mit zwei ernsthaft Verletzten. Wahrscheinlich hat sie keine Schuld, aber sie hat trotzdem Fahrerflucht begangen. Sie wurde auf dem Seitenstreifen der I-70 aufgelesen, gleich beim Park-&-Ride-Parkplatz.«
»Das ist nicht mal eine Meile von dem Haus der Bethanys entfernt.« Willoughby sprach ganz leise, fast als ob er mit sich selbst redete. »Ist sie verrückt?«
»Offiziell nicht. Nichts, was sich bei einer vorläufigen psychologischen Untersuchung feststellen lässt. Aber meiner undezidierten Meinung nach ist sie eine Spinnerin. Sie redet von einer neuen Identität, einem neuen Leben, das sie schützen will. Sie sagt, sie will uns bei der Aufklärung des Falls gern helfen, aber nicht ihre derzeitige Identität preisgeben. Ich glaube, da steckt noch eine Menge mehr dahinter. Wenn ich sie stellen will, muss ich den Fall in- und auswendig kennen.«
»Ich habe die Akte«, sagte Willoughby ein bisschen verlegen. »Vor etwa einem Jahr …«
»Die Akte wurde Ihnen bereits vor zwei Jahren ausgehändigt.«
»Schon vor zwei Jahren? Ach herrje, wie doch die Zeit verrinnt,
wenn man nicht mehr arbeitet. Ich brauche immer etwas, bis ich weiß, dass heute Donnerstag ist, und wenn ich da nicht regelmäßig Golf spielen würde …
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