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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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kleines Viereck geschrumpft war – die war hier in Mexiko bei Miriam, ein verblichener blauer Stofffetzen, in einem Rahmen auf ihrem Nachttisch. Niemand fragte sie jemals danach, und wenn, hätte sie gelogen.

Kapitel 13
    Infantes Elan, der den ganzen Tag über so überbordend gewesen war, verflog auf der Auffahrt von Edenwald. Altersheime – und was auch immer man sonst noch dazu sagte, Senioreneinrichtungen oder betreutes Wohnen, es blieben trotzdem Altersheime – waren ihm unheimlich. Anstatt rechts auf den Parkplatz von Edenwald einzubiegen, fuhr er nach links zu einer kleinen Mall, wo es einen TGI Friday’s gab. Es war fast ein Uhr, und er hatte Hunger. Er hatte ein Recht darauf, um ein Uhr hungrig zu sein. Er war schon jahrelang nicht mehr bei TGI Friday’s gewesen, aber das Personal trug immer noch die gleichen gestreiften Schiedsrichtermützen, was er noch nie so ganz verstanden hatte. Einen Schiedsrichter, den Zeitnehmer und Überwacher der Regeln, assoziierte er nicht mit Vergnügen.
    Die Speisekarte war voller vermischter Botschaften; sie pries die Gerichte mit überbackenem Käse und Frittiertem an und gab bei anderen Gerichten die genaue Menge an Kohlenhydraten und ungesättigten Fettsäuren an. Seine ehemalige Teampartnerin hatte bei jedem Bissen auf so was geachtet, je nachdem, welche Diät sie gerade machte. Auf Kalorien, auf Kohlenhydrate, auf Fett und immer auf ihr Maß an Beherrschtheit. »Ich bin richtig gut«, konnte er von Nancy hören. Oder: »Ich versage.« Es war das Einzige, was er nicht vermisste, die endlose
Analyse dessen, was sie sich in den Mund steckte. Infante hatte einmal zu Nancy gesagt, sie wüsste nicht, was Versagen sei, wenn sie meinte, es könne etwas mit einem Donut zu tun haben.
    Er dachte immer noch daran, während er die Bedienung anlächelte, nicht seine, sondern eine, die an einem anderen Tisch bediente. Es war ein defensives Lächeln gewesen, ein Fallsich-dich-irgendwoher-kenne-Lächeln, weil sie ihm irgendwie vertraut vorkam, mit dem Pferdeschwanz ganz oben auf dem Kopf. Sie grinste ihn automatisch an, sah ihm dabei aber nicht in die Augen. Also war sie niemand, den er kannte. Oder – und das war ihm zuvor noch nie in den Sinn gekommen – vielleicht hatte sie ihn ja einfach vergessen.
    Er bezahlte, beschloss, das Auto stehen zu lassen, und ging zu Fuß über die Fairmount Avenue zum Edenwald. Was hatte es bloß mit der Luft in diesen Einrichtungen auf sich? Egal ob total aufgemotzt wie dieser Kasten hier oder nur ein bisschen besser als das städtische Krankenhaus, sie verströmten alle den gleichen Geruch, vermittelten die gleiche Atmosphäre: Hier drinnen war die Luft überheizt und kalt zugleich, es roch muffig und nach künstlichen Raumsprays, mit denen man versuchte, gegen den medizinischen Mief anzukämpfen. Das Wartezimmer des Todes. Und je mehr diese Heime dagegenhielten, mit all ihren farbenprächtigen Hochglanzbroschüren, die in der Eingangshalle auslagen – Museums- und Opernbesuch, Ausflug nach New York -, desto offensichtlicher wurde es. Infantes Vater hatte seine letzten Jahre in einem Altersheim auf Long Island verbracht, einem schmucklosen Ort, der verkündete: »Sie sind hier, um zu sterben, also bitte, machen Sie schon.« Man konnte die Ehrlichkeit dieser Einstellung durchaus gutheißen. Aber wenn man sich ein Heim wie dieses leisten konnte, wollte man dafür natürlich auch gern etwas geboten bekommen. Nicht nur, dass der Rest der Familie weniger Schuldgefühle haben musste.

    Er blieb an der Rezeption stehen, als er bemerkte, wie die Frauen ihn neugierig beäugten und sich fragten, ob er wohl hier einziehen wolle. Er betrachtete sie seinerseits, konnte jedoch nichts Besonderes an ihnen finden.
    »Mr. Willoughby ist da«, sagte die Dame am Empfang. Selbstverständlich. Wo sollte er auch sonst sein? Was hatte er denn sonst zu tun?
     
    »Nennen Sie mich einfach Chet«, sagte der Mann in der braunen Strickjacke, die teuer aussah, Kaschmir wahrscheinlich. Infante war darauf eingestellt gewesen, jemand Uraltem und Schwachem gegenüberzutreten, sodass er ein wenig erschrocken war über diesen fitten, gut gekleideten älteren Herrn. Willoughby war vermutlich noch keine siebzig, nicht viel älter als Lenhardt, aber er sah beträchtlich gesünder aus. Verflucht, in gewisser Hinsicht wirkte er sogar gesünder als Infante.
    »Vielen Dank, dass Sie mich ohne Vorankündigung empfangen haben.«
    »Da haben Sie Glück gehabt«, sagte er. »Normalerweise

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