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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Egal, in der Zeitung stand ein Nachruf, und der hat mich auf etwas gebracht, und deshalb habe ich um die Gelegenheit gebeten, noch einmal nachlesen zu dürfen. Ich hätte sie natürlich nicht behalten dürfen – so viel weiß ich wohl -, aber Evelyn, meiner Frau, ging es damals sehr schlecht … Nun ja, bald darauf durfte ich für sie eine Todesanzeige aufsetzen. Ich habe die Akte schlicht vergessen, bin mir allerdings sicher, dass sie in meinem Arbeitszimmer ist.«
    Er erhob sich, und Infante schoss sofort der Ablauf von dem, was jetzt passieren würde, durch den Kopf. Willoughby würde darauf bestehen, die Kiste selbst zu tragen, und so robust und gesund der ältere Mann auch wirkte, konnte Infante das unmöglich zulassen. Er hatte es bei seinem eigenen Vater erlebt, als er noch in dem Haus in Massapequa wohnte, wie er darauf bestanden hatte, den Koffer seines Sohnes aus dem Wagen zu holen. Er folgte Willoughby ins Arbeitszimmer, aber natürlich hatte er die Kiste bereits hochgestemmt, noch ehe Infante sie ihm abnehmen konnte, und setzte sie unter Ächzen und Stöhnen auf dem Orientteppich im Wohnzimmer ab.
    »Die Todesanzeige liegt obenauf«, sagte er.
    Infante öffnete den Deckel des Pappkartons und sah einen Zeitungsausschnitt aus dem Beacon : »Roy Pincharelli, 58, langjähriger Lehramtsbediensteter«. Wie so oft bei Todesanzeigen war ein älteres Foto abgedruckt, vielleicht sogar bereits vor zwanzig Jahren aufgenommen. Die erstaunliche Eitelkeit der Toten , dachte Infante. Der Typ hatte dunkle Augen und Haare, die als eine dichte Wolke auf dem Schwarz-Weiß-Foto erschienen, und er hielt sich anscheinend für den Schwarm aller Frauen. Auf den ersten Blick sah er okay aus. Aber wenn man das Foto etwas genauer betrachtete, traten die Mankos zum Vorschein, das fliehende Kinn, die leicht gekrümmte Nase.

    »Komplikationen nach einer Lungenentzündung«, erinnerte sich Willoughby. »Das ist oftmals ein Indiz für Aids.«
    »Dann war er schwul? Wie hängt das mit dem Verschwinden der Bethany-Schwestern zusammen?«
    »In dem Artikel steht, dass er lange Zeit Schulorchester geleitet hat. 1975 war er der Lehrer an der Rock Glen, wo Sunny eine seiner Schülerinnen war. An den Wochenenden verdiente er sich als Orgelverkäufer im Jordan-Kitt’s-Musikladen noch etwas dazu. In der Mall am Security Square.«
    »Mannomann, Lehrer und Polizisten und ihre Teilzeitbeschäftigungen. Wir leisten schon Schwerstarbeit für die Gesellschaft und müssen dazu auch noch Überstunden schieben. Daran ändert sich wohl nie was, oder?«
    Willoughby sah verständnislos drein, und Infante fiel wieder ein, dass der Mann ja reich war, dass er nie erfahren hatte, wie es war, mit einem Polizeigehalt auskommen zu müssen. Wie schön für Sie .
    »Hatten Sie ihn damals verhört?«
    »Selbstverständlich, und er sagte, er hätte Heather am frühen Nachmittag gesehen. Sie befand sich unter den Zuschauern um ihn herum, als er Ostermusik spielte.«
    »Sie sagten doch, er hätte Sunny unterrichtet. Woher kannte er dann Heather?«
    »Er hatte die ganze Familie bei Schulkonzerten und ähnlichen Anlässen gesehen. Den Bethanys war Familie wichtig. Also, um genauer zu sein, für Dave Bethany war es wichtig. Auf jeden Fall sagte Pincharelli, dass er auch Heather in der Menge gesehen hätte. Ein Mann um die zwanzig packte sie am Arm, brüllte sie an und lief dann schnell davon.«
    »Und das ist ihm alles aufgefallen, während er in die Tasten seiner Orgel griff?«
    Willoughby nickte lächelnd. »Genau, samstags herrscht dort ein buntes Treiben. Wieso sollte jemandem ausgerechnet so etwas auffallen? Es sei denn …«

    »Es sei denn, er interessierte sich für sie. Aber er war schwul.«
    »Das ist meine Interpretation.« Es machte Infante fertig, wie dieser Typ sprach, er redete so geschwollen daher, ohne jegliche Ironie oder Selbstverarschung. Hinter der Fassade musste ein guter Bulle gesteckt haben, sonst hätten ihn die anderen sofort auseinandergenommen.
    »Was also interessierten einen Schwulen zwei Mädchen?«
    »Zuerst einmal muss das Verbrechen nicht unbedingt sexueller Natur gewesen sein. Das scheint zwar naheliegend, aber es ist nicht die einzige mögliche Folgerung. Wir hatten in Baltimore ein paar Jahre vor den Bethanys einen Fall, bei dem ein Mann ausrastete und ein junges Mädchen tötete, weil sie ihn an seine Mutter erinnerte, die er gehasst hat. Davon ausgehend habe ich mich oft gefragt, ob Heather an jenem Tag etwas gesehen haben könnte,

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