Was die Toten wissen
Gitarre« so sehr verachtet hatte, verkaufte jetzt die gleichen Töpferwaren aus Oaxaca, die Dave versucht hatte, der Mittelschicht in Baltimore anzudrehen, lang bevor diese dafür einen Sinn entwickelt hatte. Aber sie brauchte eine Arbeit, und obwohl ihr der Geschmack des Besitzers nicht besonders zusagte, war ihr der Mann selbst auf der Stelle sympathisch gewesen. Joe Fleming war ein lustiger, extravaganter Schwuler – wenn er mit den Kunden sprach. Aber Miriam hatte ihn sofort durchschaut und geahnt, dass sich dahinter etwas Dunkles und Trauriges verbarg. Das war für sie der »Faux Joe«-Part an ihm. Und auch wenn sie Joes Geschmack nicht teilte, verkaufte sie die Sachen mit großem Geschick. Ihr Geheimnis war, dass sie sich einfach überhaupt nichts daraus machte. Mit ihrer aufrechten Haltung und ihrer immer noch tadellosen Figur, die dunklen Haare von drahtigen Silbersträhnen durchzogen, war sie eine elegante Erscheinung, und ihre distanzierte, ruhige Art versetzte die Kunden in einen wahren Kaufrausch; als wollten sie damit Miriams Anerkennung
gewinnen, ihr beweisen, dass ihr Geschmack dieser gepflegten Frau ebenbürtig war.
Es war ein ruhiger Morgen im Laden. Die Winterammern hatten die Reise nach Norden angetreten, noch eine Woche bis zum Osterrummel. Miriam war 1989 rein zufällig in der Osterwoche in San Miguel de Allende gewesen. Bis dahin hatte sie Ostern nie als kirchlichen Feiertag betrachtet. Es war dabei immer mehr um Osternester und Daves sorgfältig geplante Eiersuche im Garten gegangen. Keiner von ihnen war in einem religiösen Zuhause aufgewachsen; Miriam war Jüdin und Dave Protestant. Viele ihrer Bekannten hatten ihnen die Rückbesinnung zu ihrem Glauben nahegelegt, als Hilfe bei der Trauerbewältigung, aber Miriam hatte seit dem Verschwinden der Mädchen noch weniger Sinn dafür. »Der Glaube erklärt überhaupt nichts«, hatte sie ihren Eltern gesagt. »Er verlangt von einem, dass man auf eine Erklärung wartet, die man – vielleicht, vielleicht auch nicht – nach dem Tod erhält.«
Der Glaube, mit dem Miriam bisher in Berührung gekommen war, war unaufdringlich und kultiviert gewesen. Selbst der Fünffache Pfad, den Dave praktizierte, war besonnen und zurückhaltend gewesen. In Mexiko hatte Religion noch etwas Wildes und Gesetzloses. Sie fragte sich, ob es eine Folge des jahrelangen Verbots des Katholizismus sein konnte, der in den Dreißigern in den Untergrund verbannt worden war, aber diese Theorie kam ihr erst, nachdem sie bereits ein paar Jahre dort gelebt und Bücher wie Alan Ridings 18-mal Mexiko oder Graham Greenes Gesetzlose Straßen gelesen hatte. An dem Tag, an dem sie in San Miguel ankam, bemerkte sie nur diese lechzende, erwartungsvolle Intensität der Menge, wie vor dem Beginn eines Rockkonzerts, und aus reiner Neugier schloss sie sich ihnen an. Schließlich kam die Prozession in Sicht. Eine erstaunlich lebendig wirkende Jesusfigur in einem Glassarg wurde von Frauen in Schwarz und Violett getragen. Die Tatsache, dass da Jesus unter Glas liegen sollte, fand Miriam abscheulich,
aber dass es Frauen waren, die ihn trugen, gefiel ihr wiederum. Das war am Karfreitag. Am Ostersonntag hatte sie sich bereits entschieden: Sie wollte in San Miguel bleiben.
Jahrestage. Natürlich gab es da einen ganz besonderen Tag, der 29. März, und es ergab einen Sinn, dass sie an diesem Tag um ihre Töchter trauerte. Aber es war der Samstag zwischen Karfreitag und Ostersonntag, der Miriam besonders unter die Haut ging. Es war der eigentliche Tag, auf den es ankam, weniger das Datum selbst. Es war dumm gewesen, zu behaupten, sie würde an diesem Tag arbeiten. Selbst der naive Dave hätte sich zusammenreimen können, dass eine Immobilienmaklerin, auch dann noch, wenn es sich um Baumgartens knallharte Top-Verkäuferin handelte, samstags nicht zur Arbeit musste, wenn am darauffolgenden Ostersonntag gar keine Häuser zu besichtigen waren. Hätte Dave bloß nicht all die offensichtlichen Anzeichen für ihren Ehebruch ignoriert, hätte er sie nur ein, zwei Wochen früher dabei erwischt. Aber wahrscheinlich befürchtete er, sie würde ihn verlassen. Sie wusste bis heute nicht, ob sie es getan hätte, wenn die Kinder noch am Leben gewesen wären.
Joe kam meist erst später, das Privileg des Besitzers. »Texaner«, sagte er und wies über seine Schulter zum Schaufenster, wo eine Gruppe von Touristen kritisch die Auslage betrachtete. Er raunte das Wort, etwa so wie ein Cowboy in einem alten Western
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