Was die Toten wissen
Miriam nie zu schätzen gewusst.«
Infante spielte an der Karte herum und studierte das Gesicht des alten Mannes. Du dafür umso mehr, oder nicht? Es war nicht allein der unerledigte Fall, der Willoughby dazu veranlasst hatte, die Karte an einem schnell zugänglichen Ort aufzubewahren.
Infante fragte sich, wie die Mutter wohl aussah, ob sie auch so eine sonnige kleine Blondine war wie ihre Töchter. Ein bestimmter Typ Polizist, vom Schlag eines Willoughby, würde sofort auf eine gut aussehende, hilflose Frau hereinfallen.
»Ich nehme mal an, dass die medizinischen Unterlagen auch hier drin sind?«
»Soweit vorhanden.«
»Was bedeutet das?«
»Dave hatte eine, na ja, sagen wir mal, interessante Einstellung Ärzten gegenüber. Seiner Meinung nach war weniger mehr. Bei seinen Töchtern durften die Mandeln nicht entfernt werden, und wenn ich das richtig sehe, war er damit seiner Zeit voraus. Aber er war auch gegen Röntgenaufnahmen, weil er glaubte, dass selbst geringe Dosen an Strahlung gefährlich waren.«
»Heißt das …« Verdammter Mist .
»Genau. Bei den zahnärztlichen Unterlagen befindet sich jeweils ein Röntgenbild von Sunny mit neun und von Heather mit sechs.«
Keine Zahnarztunterlagen, keine Informationen zum Blut, noch nicht einmal die Blutgruppe. Infante stand nichts von den Hilfsmitteln und Unterlagen zur Verfügung, die 1975 bereits gang und gäbe waren.
»Irgendwelche Ratschläge?«, fragte er, während er den Deckel wieder auf den Karton setzte.
»Wenn die Geschichte der Unbekannten halbwegs mit dem Material in den Akten übereinstimmt, dann suchen Sie nach Miriam und bringen Sie sie hierher. Ich würde alles auf ihren mütterlichen Instinkt setzen.«
Ja, und wahrscheinlich würdest du auch gern mal wieder deine verflossene Liebe sehen, jetzt, wo du Witwer bist .
»Sonst noch was?«
Willoughby schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss... Wenn Sie wüssten, was der Anblick dieses Kartons bei mir auslöst.
Es fällt mir schwer, Sie mit dem Karton gehen zu lassen, am liebsten würde ich Sie darum bitten, mit Ihnen ins Krankenhaus fahren und die Frau befragen zu dürfen. Ich weiß so viel von diesen Mädchen, über ihr Leben, insbesondere über diesen letzten Tag. In gewisser Weise sind mir die Einzelheiten ihres Lebens vertrauter als die meines eigenen. Vielleicht kenne ich sie zu gut. Wer weiß! Ein unverbrauchter Blick entdeckt womöglich etwas, das mir bereits vor Jahren hätte auffallen können!«
»Hören Sie, ich halte Sie auf dem Laufenden, wenn Sie möchten. Ganz gleich, was dabei rauskommt, ich ruf Sie an und erzähle Ihnen, wie es ausgegangen ist.«
»Okay«, sagte er in einem Tonfall, der vermittelte, dass es alles andere als okay war, und Infante kam sich vor, als würde er jemandem, der dringend mit dem Trinken aufhören wollte, es aber nie ganz schaffte, einen Drink anbieten. Er sollte den Kerl am besten in Ruhe lassen. Er hatte erwartet, dass Willoughby neugieriger auf die Wiederbelebung des alten Falles reagieren würde. Aber der sah nur aus dem Fenster und betrachtete den Himmel, offenbar mehr am Wetter als an den verschollenen Bethany-Mädchen interessiert.
Kapitel 14
»Heather …«
»Ja, Kay?«
Beim Klang ihres Namens ging ein Strahlen über Heathers Gesicht. Allein ihn zu hören war wie Nachhausekommen, ein großes Wiedersehen. Warum war es ihr so lange verwehrt geblieben? Wo war sie wohl gewesen, was war ihr wohl zugestoßen, dass sie ihre Identität nicht schon vor Jahren wieder hatte annehmen können, ja dürfen?
»Es tut mir leid, aber es muss noch so viel geregelt werden.
Die Weiterbehandlung nach Ihrer Entlassung, die Versicherungs…«
»Ich bin versichert. Ganz bestimmt. Die Krankenhauskosten werden übernommen werden, ich weiß im Augenblick nur meinen Versicherungsträger und die Nummer nicht mehr.«
»Sicher, das verstehe ich.« Kay hielt einen Augenblick inne und dachte darüber nach, was sie gerade gesagt hatte, etwas, das sie jeden Tag sagte, etwas, das andere auch andauernd sagten. Es passierte automatisch, und es war selten wahr. »Eigentlich versteh ich gar nichts, Heather.« Noch einmal dieses Strahlen in ihrem Gesicht. »Was auch immer passiert ist, Sie sind hier eindeutig das Opfer. Haben Sie Angst? Wollen Sie sich vor jemandem verstecken? Vielleicht würden Sie gern mit jemandem aus der Psychiatrie sprechen, jemandem mit Erfahrung im Umgang mit posttraumatischem Belastungssyndrom.«
»Ich habe bereits mit jemandem gesprochen.« Heather
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