Was die Toten wissen
Auto geführt hatten, über die Rentenversicherungsanstalt und warum dort so viele Menschen arbeiteten, die alle um vier Uhr nachmittags die Straßen verstopften. Die zahlen uns Geld, wenn wir alt sind? Cool! Wenn er daran dachte, wie sehr er Jeff Baumgarten verachtete; wie er sich vorstellte, ihm vor seinem Haus in Pikesville aufzulauern und ihn mit dem VW-Bus zu überfahren, wenn er morgens heraustrat, um die Zeitung von seiner kreisrunden Auffahrt aufzuheben – selbst dabei ging es eigentlich um die Mädchen, oder? Wenn er zum Briefkasten ging und die Ausgabe des New York -Magazins herausholte, fiel sein Blick auf die Ron-Rico-Rum-Anzeige auf der hinteren Umschlagseite, und er musste unwillkürlich daran denken, wie fasziniert Heather von den geschmacklosen, billigen Werbeaufnahmen war, während Sunny über den wöchentlichen Wortwettbewerb kicherte. Jeder noch so beliebige Gegenstand – der Schuppen, den die Mädchen hinten im Garten errichtet hatten, das glitzernde Grün einer Genesee-Ale-Dose im Rinnstein, Miriams zerschlissener blauer Bademantel – führte ihn zu seinen Töchtern. Dieses Extremstadium würde nicht ewig andauern, beruhigte man ihn, jeder Schmerz ließ einmal nach, aber er wollte nicht, dass er nachließ. Dieser dumpfe Zorn, der in ihm loderte, war wie eine Lampe im Fenster, die den Mädchen den Weg nach Hause leuchten sollte.
Selbst jetzt hörten seine Gedanken nicht auf zu rasen, was den Sinn von Agnihotra untergrub. Er hatte zaghaft versucht, das Thema bei den anderen, die den Fünffachen Pfad praktizierten, anzuschneiden. Estelle Turner war bereits vor langem verstorben und Herb nach Nordkalifornien gezogen, davon
überzeugt, dass er alle Verbindungen nach Baltimore abbrechen musste. Dave hatte ihn wegen der Mädchen angerufen, aber Herb hatte leicht gereizt darauf reagiert; er wollte nicht an sein früheres Leben erinnert werden und hatte letztlich nur von sich erzählt, von seinen diversen Enttäuschungen und Verlusten. »Ich weiß einfach nicht weiter«, sagte er immer wieder. Doch Herb ging sowieso nichts nahe – von Estelle einmal abgesehen. Selbst der Tod von Herbs eigener Tochter war von diesem als spirituelle Prüfung abgetan worden, als Teil seiner verfluchten Reise.
Es gab noch andere in Baltimore, die den Fünffachen Pfad beschritten, und sie waren in den letzten zwölf Monaten außerordentlich nett zu Dave gewesen und hatten für einen nicht enden wollenden Vorrat an Sojaauflauf gesorgt. Doch auch diese Freunde zeigten sich fassungslos, als er es wagte, anzudeuten, dass das gemeinsame Glaubenssystem vielleicht nicht ausreichte, um ihn da durchzulotsen. Was hatte es zu bedeuten, wenn er seine Gedanken nicht zur täglichen Meditation loslassen konnte? Sollte er es sein lassen, bis er sich wieder darauf konzentrieren konnte, oder sollte er es zumindest versuchen? Gleich war er am Ende des Sonnenuntergangsrituals angelangt und er hatte nichts davon mitgekriegt, hatte es nicht geschafft, innere Ruhe und Zufriedenheit daraus zu ziehen. Stattdessen betrachtete er das Agnihotra allmählich als das, was Miriam immer darin gesehen hatte – als widerwärtigen Gestank und fetthaltigen Qualm, der an den Wänden des Arbeitszimmers haften blieb.
Das Feuer war ausgegangen. Er sammelte die Asche ein, die er als Dünger benutzte, und ging wieder in die Küche zurück, goss sich selbst ein Glas Wein und für Chet einen Whisky ein. Etwas nachträglich goss er Miriam ebenfalls ein Glas Wein ein.
»Mal ehrlich, Chet, gibt es irgendetwas Neues? Können Sie auf das letzte Jahr zurückblicken und sagen, da haben wir etwas herausgefunden?« Er fand es edel von sich, »wir« zu sagen.
Im Stillen dachte Dave, dass die Polizei, obwohl sie es gut meinte und ernsthaft bei der Sache war, sich im Prinzip als unfähig erwiesen hatte.
»Wir haben eine Menge Möglichkeiten ausschalten können, den Chorleiter von Rock Glen. Ähm … und andere.« Noch nicht einmal privat kam Chet auf die Idee, Miriam für die Baumgarten-Geschichte zur Verantwortung zu ziehen. Es machte Dave fertig, wie alle Polizisten Miriam schon fast dafür lobten, dass sie so offenherzig über die Affäre geredet hatte, wie sie zustimmend mit den Köpfen genickt hatten, als sie am folgenden Sonntagabend von sich aus alles gestand. Ehrliche Miriam, aufrichtige Miriam, die alles aufgegeben hatte, um ihre Töchter zu finden. Aber Miriam hatte noch nie zu Betrug geneigt, und wenn sie nicht diese blöde Affäre eingegangen wäre – dann
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