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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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gesehen hatte, bei dem die Spüle an einer Wand mit mexikanischen Fliesen stehen sollte. Ihre Mutter hatte schon die Spüle am Fenster stehen gehabt, und Miriam hatte ihren Töchtern beigebracht, ebenfalls darauf zu
achten. Sie erinnerte sich daran, wie Heather ihr Holzpuppenhaus von Creative Playthings eingerichtet hatte. Das offene Rechteck aus blauem Holz funktionierte nach dem Baukastenprinzip, ganz anders als das Firlefanz-Haus im viktorianischen Stil, das Heather sich selbst ausgesucht hätte. Es gab darin sogar dänische Möbel aus solidem Hartholz. »Die Spüle muss vor der Frau stehen«, erzählte die Mama-Gummipuppe der Papa-Gummipuppe, als Heather zum ersten Mal das Haus aufbaute. Miriam hatte Heathers Verhackstückung ihres Erlasses nicht verbessert. Die Puppen waren die einzige Schwachstelle bei dem Bausatz gewesen; sie trockneten aus und verschrumpelten, wie das bei Gummi eben so ist. Aber das Haus und die Möbel waren immer noch in Heathers Schrank und warteten darauf … auf was? Auf wen?
    Insgesamt blieben die Zimmer der Mädchen unangetastet, obwohl Miriam sich schließlich dazu überwand, die Betten frisch zu beziehen, das Bett von Heather zerknäult und zerwühlt, Sunnys dagegen glatt und kaum zerknittert. Beide Mädchen hatte ihre Art, zu schlafen, als Argument angeführt, um ihr Bett nicht machen zu müssen. »Ich bring es eh nur wieder durcheinander«, sagte Heather. »Man sieht fast gar nicht, dass ich darin geschlafen habe«, meinte Sunny. Sie hatten sich auf einen Kompromiss geeinigt: Unter der Woche wurden die Betten gemacht, am Wochenende nicht. Über Wochen hinweg hatte Miriam Trost darin gefunden, die ungemachten Betten anzusehen, als Beweis dafür, dass ihre Töchter bald wieder darin schlafen würden, dass sie ebenso wiederkämen, wie es wieder Montag würde.
    Die unmittelbaren Auswirkungen – aber nein, das war der falsche Ausdruck dafür, weil er etwas Greifbares, etwas Endgültiges implizierte. Was waren bei ihrer Situation die »Auswirkungen«, was daran »unmittelbar«? In den ersten achtundvierzig Stunden, als man noch nichts wusste und alles möglich war, kam es Miriam so vor, als wäre sie in einen eiskalten,
reißenden Fluss getaucht worden, und ihr vorrangiger Impuls war es, den Schock irgendwie zu überwinden. Sie aß nichts, sie schlief so gut wie gar nicht, und sie schüttete Unmengen von Kaffee in sich hinein, weil sie wachsam sein und nichts versäumen wollte. Anfänglich war sie noch davon ausgegangen, dass es eine Antwort geben würde. Mit dem Klingeln des Telefons, einem Klopfen an der Tür würde sich alles aufklären.
    Wie hochtrabend diese Erwartung doch gewesen war.
    Detective Willoughby – da war er noch nicht Chet für sie, nur ein Kriminalkommissar, ein Polizeibeamter -, Detective Willoughby hielt sie für mutig und selbstlos, weil sie noch am selben Wochenende zugegeben hatte, wo sie den Nachmittag verbracht hatte. »Die meisten lügen in diesem Fall«, erzählte er ihr. »Wegen geringfügigster Dinge. Sie würden staunen, wie hemmungslos und selbstverständlich die Leute die Polizei belügen.«
    »Wenn es dazu beiträgt, meine Töchter zu finden … was soll’s? Und wenn nicht … dann ist es sowieso egal!«
    Das war am Sonntag, einen Tag nach dem Verschwinden der Mädchen, die ersten vierundzwanzig Stunden, die ersten achtundvierzig Stunden, anscheinend hatte jeder seine eigene Faustregel für das kritische Zeitfenster. Und offenbar lagen damit alle falsch. Es gab keine Regeln, wie Miriam herausfand. Sie mussten beispielsweise gar nicht eine gewisse Zeit abwarten, bevor sie die Mädchen als vermisst melden konnten. Die Polizei hatte sie bereits vom ersten Anruf an ernst genommen, Polizisten zu ihnen nach Hause und von dort in die Mall geschickt, wo sie Miriam und Dave durch die sich langsam lichtende Menge der Samstagabendeinkäufer geleiteten. Auch andere hatten sich hilfsbereit gezeigt. Der Platzanweiser des Kinos konnte sich an die Mädchen erinnern; dass sie Karten für Die Flucht zum Hexenberg gekauft und sich dann in Chinatown geschmuggelt hätten. Miriam verspürte einen seltsamen Anflug von Stolz auf Sunny, als sie das hörte. Die fügsame, brave
Sunny hatte sich in einen Film ab 16 gestohlen, und dazu noch in einen richtig guten. Das hätte ihr Miriam nicht zugetraut. Sie würde ihrer Tochter kein bisschen böse sein. Ganz im Gegenteil, sie würde sich mit ihr hinsetzen und sie fragen, ob es noch mehr Filme ab 16 gab, die sie gerne sehen wollte.

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