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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Töchtern geschehen war. Je mehr die Öffentlichkeit wusste, desto besser konnte sie ihnen helfen. Vielleicht hatte Mrs. Baumgarten jemanden beauftragt. Vielleicht hatte Jeff Baumgarten dafür gesorgt, dass die Kinder entführt wurden, um Miriam unter Druck zu setzen und ihre heimliche Affäre weiterführen zu können. Vielleicht war bei seinem Plan etwas
schiefgelaufen. Aufrichtigkeit befreite, argumentierte Dave, und sie würde sich auszahlen. Sie sollten alles offenlegen und den Dingen ihren Lauf lassen.
    Vermutlich war das der Grund gewesen, warum Chet bei den Interviews dabei sein wollte. Dave fiel zumindest kein anderer ein. Zu Beginn der Ermittlungen wurde nur wenig zurückgehalten – der Fund von Heathers Tasche, die Anrufer, die die Mädchen in den unterschiedlichsten Bundesstaaten gesehen haben wollten (South Carolina, West Virginia, Virginia, Vermont) und in den unterschiedlichsten Verfassungen (lebend und lachend, schwimmend und spielend, Hamburger essend, gefesselt und geknebelt). Schon seltsam, wie diese Wahnwitzigen in gewisser Hinsicht noch schlimmer waren als die Spaßvögel. Sie dachten, ihre Fantasien könnten hilfreich sein, aber sie verursachten nur noch mehr Leid.
    »Glauben Sie … können Sie …« Der Reporter vom Star schien sich aus der aktuellen Mode nichts zu machen, er trug immer noch Hut und dazu eine schmale Krawatte. Mühselig suchte er nach den richtigen Worten, sodass Dave sofort wusste, worauf seine Frage abzielen würde. »Hoffen Sie immer noch, dass Ihre Töchter lebend gefunden werden?«
    »Selbstverständlich, Hoffnung ist wichtig.« Gedächtnisschwund, ein Schloss in Bayern, ein sanfter Exzentriker, der es auf zwei Töchter mit goldenem Haar abgesehen hatte, ihnen aber niemals im Leben etwas zuleide tun würd e.
    »Nein«, sagte Miriam.
    Das versetzte Chet in der Ecke in Alarm, als rechnete er damit, gleich einschreiten zu müssen. Hatte der Spürhund tatsächlich endlich etwas aufgespürt. Spürte er vielleicht, dass Dave in diesem Augenblick am liebsten seine Frau geschlagen hätte? Es wäre im Verlauf des letzten Jahres nicht das erste Mal gewesen, dass er diesen Impuls unterdrückt hatte. Die Reporter waren offenbar genauso schockiert, als hätte Miriam ein ungeschriebenes Protokoll für trauernde Eltern verletzt.

    »Sie müssen meine Frau entschuldigen«, lenkte Dave ein. »Sie ist sehr aufgewühlt, und dies ist eine besonders schwere Zeit …«
    »Ich bin kein kleines Kind, das heute keinen Mittagsschlaf gemacht hat«, unterbrach ihn Miriam. »Und ich bin heute nicht aufgewühlter, als ich es gestern war oder morgen sein werde. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich unrecht habe, aber wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht die Wahrscheinlichkeit ihres Todes in Betracht ziehe, wie sollte ich dann weiterleben?«
    Die Reporter schrieben bei dieser Art von Gefühlsausbrüchen nicht mit, wie Dave auffiel. Sie wollten Miriam instinktiv beschützen, ebenso wie alle anderen, die davon ausgingen, dass ihre unpassenden Bemerkungen aus dem Leid geboren wurden. Von Reportern erwartete man einen gewissen Zynismus, und vielleicht hatten sie den auch, wenn sie über den Watergate-Skandal, über Betrug und Verschwörungen berichteten. Aber für Dave gehörten sie zu den gutgläubigsten Menschen, die er je kennengelernt hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte er und diesmal wusste er selbst nicht, warum er sich entschuldigte.
    Nach einer Weile nickte auch Miriam und ließ die Schultern hängen auf eine Art, die Dave dazu veranlasste, den Arm um sie zu legen. »Es ist schwer«, sagte sie, »Hoffnung zu bewahren und gleichzeitig Trauer auszuleben. Egal, was ich sage, ich komme mir vor, als ob ich meine Töchter verraten würde. Wir wollen einfach nur wissen, woran wir sind.«
    »Gibt es einen Augenblick am Tag, wo sie mal nicht daran denken?«, fragte die Reporterin vom Light .
    Die Frage erwischte Dave völlig unvorbereitet, zum Teil, weil sie neu war. Wie schaffen Sie es, weiterzumachen, nicht darüber nachzudenken? Darauf hätte er eine Antwort gewusst. Aber gab es tatsächlich Augenblicke, wo er nicht an die Mädchen dachte? Rein rational betrachtet musste es diese Zeitpunkte
geben, doch als er jetzt danach suchte, konnte er keinen benennen. Wenn er das Abendessen vorbereitete, stellte er sich immer vor, was die Mädchen dazu sagen würden. Schon wieder Hackbraten? Wenn er im Nachmittagsverkehr an einer roten Ampel stand, spielte er in Gedanken die Unterhaltungen durch, die sie im

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