Was die Toten wissen
Miriam an diesem Tag gewesen war – in einem zum Verkauf stehenden Haus oder hier in der Algonquin Lane oder in einem Motel, in einem Motel, in einem verfluchten Motel -, sie hätte die Mädchen auch nicht retten können. Außerdem hatte er an jenem Nachmittag in einer Kneipe gesessen und dabei fast vergessen, die Mädchen abzuholen. Deshalb war er auch fünf Minuten zu spät gekommen. Ein Stich ging ihm immer noch durchs Herz beim Gedanken daran, wie er sich an diesem Nachmittag gefühlt hatte. Zuerst wütend, weil er dachte, die Mädchen kämen rücksichtslos zu spät. Dann leicht panisch, aber noch in der Annahme, dass sich schon alles aufklären würde und er dann wieder wütend sein konnte. Nach einer Dreiviertelstunde wandte er sich an den Sicherheitsbeamten der Mall. Er erinnerte sich immer noch voller Dankbarkeit an den übergewichtigen Mann, der mit ihm die Gänge ablief und dabei
mit brummender Bassstimme die harmlosesten Erklärungsmöglichkeiten aufzählte. »Vielleicht sind sie mit dem Bus nach Hause gefahren. Vielleicht haben sie bei einer Kundenbefragung in den Büros hinten mitgemacht. Vielleicht sind sie von der Mutter oder dem Vater einer Freundin mitgenommen worden und dachten, sie wären rechtzeitig zu Hause, um Sie bei der Arbeit anzurufen.«
Dave hatte die Worte des Wachmanns aufgesaugt, als wären sie ein Versprechen, war in seinem VW-Bus nach Hause gerast und sicher gewesen, die Mädchen dort anzutreffen. Stattdessen fand er nur Miriam vor. Es war so merkwürdig gewesen, sie zu sehen. Er wollte sie zur Rede stellen, musste jedoch die plötzlich nichtige Tatsache ihrer Untreue erst einmal hinten anstellen. Miriam war bewundernswert ruhig geblieben, hatte die Polizei angerufen und nahegelegt, dass Dave noch einmal zur Mall fahren und weitersuchen sollte, während sie zu Hause blieb, für den Fall, dass die beiden heimkamen. Um sieben Uhr abends gingen sie immer noch davon aus, dass die Mädchen wieder auftauchen würden. Es war schwer, zu beschreiben, wie sich ihre Erwartung, ihre Hoffnung – alles, wozu sie sich einmal berechtigt fühlten – nach und nach in Luft auflösten. Da der Fall jedoch nie aufgeklärt wurde, spielte Dave alle möglichen Szenarien durch und ließ sich zu weit hergeholten Schlüssen hinreißen. Dies war der Stoff, aus dem Soaps waren. Warum konnte es dann nicht auch ein Happyend wie in einer dieser Soaps geben? Simultaner Gedächtnisschwund, ein exzentrischer griechischer Milliardär hatte sich Daves Kinder gekrallt, und sie lebten wohlauf bei ihm in seinem Schloss in Bayern. Wieso nicht?
Was auch immer Miriam für Sünden begangen haben mochte, es war Dave gewesen, der die Erlaubnis für den Ausflug zur Mall gegeben hatte, und obwohl ihm Miriam immer wieder versicherte, dass er nichts Unrechtes getan habe, gab er immer noch … ihr die Schuld. Er war in Gedanken woanders
und besorgt gewesen. Damals hatte er geglaubt, dass es wegen des Ladens war, aber letztlich hatte er bereits geahnt, dass mit ihrer Ehe etwas nicht stimmte. Wenn er an diesem Tag geistesgegenwärtiger gewesen wäre, sich mehr auf seine Töchter konzentriert hätte, wäre ihm vielleicht klar geworden, dass sie zu jung für derlei Freiheiten waren. Miriam hatte ihn abgelenkt.
Jeff Baumgarten oder dessen Frau, die mehrere Polizeivernehmungen über sich ergehen lassen mussten, nachdem Miriam mit der Wahrheit herausgerückt war, taten ihm nicht im Mindesten leid. Immerhin war Thelma Baumgarten noch um drei Uhr in Daves Laden gewesen, und der war weniger als drei Meilen von der Mall entfernt. Das Motel lag noch näher, wie sich herausstellen sollte. Dave verabscheute Mrs. Baumgarten noch mehr als Jeff. Jeff hatte es mit seiner Frau getrieben, aber Mrs. Baumgarten … Nun ja, Mrs. Baumgarten hatte mit ihrem dummen Zettel versucht, alles auf Dave abzuwälzen. Fette kleine Hausfrau. Hätte sie ihren Mann glücklich gemacht, hätte er wahrscheinlich Miriam in Ruhe gelassen.
»Hat es jemals einen dringend Tatverdächtigen gegeben?« Dave warf Chet einen Blick zu und wartete darauf, alles über die Baumgartens erzählen zu dürfen. Aber Chet schüttelte fast unmerklich den Kopf. Es würde lediglich das Wasser trüben , hatte er Dave immer zu verstehen gegeben, wenn er alles – alles – an die große Glocke hängen wollte mit der Begründung, dass es selbst auf das kleinste Detail ankäme. Für Dave war Offenheit nicht nur eine Tugend, sondern eine Grundvoraussetzung, um herauszufinden, was mit seinen
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