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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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behelfsmäßige Dämme gegen alle ihre Geheimnisse zusammengezimmert; sie hatten versucht, das Rinnsal eines Bächleins einzudämmen, wo doch eine Flutwelle auf sie lauerte. Am Ende waren alle ihre Lügen unbemerkt geblieben, denn wen kümmerten schon derlei armselige Dinge in einer postapokalyptischen Welt, in der alles in Trümmern lag? An dem Tag, als Estelle und Herb Turner sie um Hilfe baten, hatte Miriam gedacht, sie könne zwei Unschuldigen die Chance zu einem Neuanfang geben. Aber letztendlich waren es die Mädchen gewesen, die ihr die Möglichkeit boten, sich neu zu definieren. Dann, als sie weg waren, hatte sie diesen Teil von sich auch verloren.
    Verdammt noch mal , dachte sie und bog jäh und unerlaubterweise nach links ab, ich bin auf der Straße nach Barton Springs .

    Aber bereits einen Block später drehte sie wieder um. Der Immobilienmarkt in Austin fing an zu stagnieren. Sie durfte keinen einzigen Kunden verlieren.

Kapitel 26
    »Du kannst schneller rechnen als die Registrierkasse«, sagte Randy, der Swiss-Colony-Manager.
    »Verzeihung?«
    »Die neue Registrierkasse berechnet das Wechselgeld, übernimmt das Denken für dich. Aber du lässt sie nicht, das sehe ich. Du bist ihr einen Schritt voraus, Sylvia.«
    »Syl«, verbesserte sie und zupfte an den Ärmeln des Swiss Miss-Outfits, das sie tragen mussten, komplett mit Dirndl und Puffärmeln. Die Mädchen hassten die tiefen Ausschnitte, die ihre Brüste freilegten, wenn sie sich vornüberbeugten, um Käse und Wurst aus der Auslage zu holen. Im Winter trugen sie Rollis unter den Kleidern, aber jetzt, wo es fast April war, ließen sich Rollkragenpullis nur schwer rechtfertigen. »Syl, nicht Sylvia.«
    »Aber du kannst ums Verrecken nicht einpacken«, fuhr er fort. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der zwei so linke Hände hat. Und außerdem animierst du die Kunden nicht, mehr zu kaufen. Wenn sie die Sommerwurst kaufen, musst du den Senf dazu empfehlen. Wenn sie einen kleinen Präsentkorb wollen, musst du sie zu einem größeren überreden.«
    Wir sind nicht am Umsatz beteiligt , hätte sie am liebsten gesagt, aber sie wusste, das war nicht der passende Moment dafür. Sie zog den rechten Ärmel hoch und der linke rutschte runter, zog den linken hoch und der rechte rutschte. Na und, sollte Randy doch ihre nackte Schulter sehen.
    »Hast du den Job nicht nötig, Sylvia?«
    »Syl«, verbesserte sie wieder. »Kurz für Priscilla, nicht Sylvia.
« Sie versuchte, sich mit dem neuen Namen anzufreunden. Sie war jetzt Priscilla Browne, den Papieren nach, zweiundzwanzig Jahre alt – Geburtsurkunde, Sozialversicherungsausweis und Personalausweis hatte sie, nur der Führerschein fehlte.
    »Du bist ein bisschen verwöhnt, stimmt’s?«
    »Verzeihung?«
    »Du hast nicht gerade viel Arbeitserfahrung vorzuweisen. Du hast erzählt, in der Highschool hättest du nicht arbeiten dürfen, und nun bist du hier … wo noch mal?« Er warf einen Blick auf das Blatt vor ihm. »Im Fairfax Community College? Ganz die Tochter ihres Vaters, was?«
    »Wie bitte?«
    »Er hat dir ein hübsches Taschengeld gegeben, du musstest nie arbeiten. Er hat dich verwöhnt.«
    »Ja, wahrscheinlich.« Oh ja, und wie er mich verwöhnt hat.
    »Also, das Geschäft läuft nicht gerade gut. Wenn du’s genau wissen willst, schon seit Weihnachten nicht mehr. Ich muss also etwas abspecken …«
    Er sah sie erwartungsvoll an, einer dieser Augenblicke, die sie verabscheute. Seit sie auf sich gestellt war, war sie immer wieder in diese Situation geraten, bei der sie sich in der »Umgangssprache« der Normalos versucht hatte. Die einzelnen Wörter entsprachen mehr oder weniger der Sprache, die sie kannte, aber sie hatte Schwierigkeiten, ihre Bedeutung zu begreifen. Wenn jemand einen Satz anfing und erwartete, dass sie ihn zu Ende führte, hatte sie Angst, dass ihre Antwort so daneben sein würde, dass sie sich automatisch verdächtig machen würde. Jetzt zum Beispiel hätte sie am liebsten vervollständigt: »… und eine neue Produktlinie mit kalorienreduzierten Lebensmitteln einführen.« Aber das war bestimmt nicht das, was Randy mit Abspecken gemeint hatte. Er wollte damit sagen – Oh, verflucht, sie sollte entlassen werden. Schon wieder.

    »Du bist nicht besonders umgänglich«, sagte er. »Du bist clever, aber du solltest nicht im Verkauf arbeiten.«
    »Ich wusste noch nicht mal, dass ich im Verkauf angestellt bin«, empörte sie sich. Tränen traten ihr in die Augen.
    »Du bist Verkäuferin«,

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