Was die Toten wissen
rot und grün verfärbt waren. »Wie können die nur so lügen?«
»Die Werbung lügt immer«, entgegnete Sunny, mit elf Jahren bereits weise. »Erinnerst du dich noch, als wir die hundert Puppen bestellt haben, die auf dem Millie the Model -Comic hinten drauf waren, und die waren so winzig?« Sie zeigte mit Zeigefinger und Daumen, wie klein die Puppen waren und wie groß die Lüge.
Miriam stand immer noch an der Ampel, als ihr Blick plötzlich auf das Datum fiel: 29. März. Der Tag. Dieser ganz bestimmte Tag. Es war das erste Mal, dass es ihr gelungen war, den Tag relativ locker anzugehen, das erste Mal, dass sie abends eingeschlafen war, ohne den sogenannten Gedenktag zu fürchten, das erste Mal, dass sie nicht schweißgebadet aus einem bösen Alptraum erwacht war. Dass der Frühling in Austin so anders war, dass es Ende März schon fast heiß war, half ihr dabei. Wenn sie lebten – oh Gott, falls sie lebten, wäre Sunny jetzt dreiundzwanzig, Heather fast zwanzig.
Aber sie lebten nicht mehr. Wenn sie sich über etwas im Klaren war, war es das.
Ein Hupen, dann noch eins, dann noch eins, und Miriam wäre beinahe blind drauflosgeprescht. Sie versuchte, Gründe zu finden, warum Sunny und Heather froh sein konnten, dass sie nicht hier waren. Die Präsidentschaft Reagans? Aber sie bezweifelte, dass eines der Mädchen sein Leben geopfert hätte, um das zu verhindern. Die Musik war sogar besser, zumindest in Miriams nicht mehr ganz jungen Ohren, und sie mochte auch die Kleidung, die Mischung aus chic und bequem, wenigstens bei manchen Modedesignern. Austin hätte ihnen auch gefallen, selbst wenn die Einheimischen es für kaputt, kaputt, kaputt hielten. Sie hätten hier aufs College gehen, in den Clubs abhängen, Burger bei Mad Dog & Beans essen können. Sie hätten Migas bei Las Mañanitas probieren, Frozen Margaritas bei Jorge schlürfen, im Bioladen einkaufen können, der vollwertig (lose Hirse) und dekadent zugleich war (fünf verschiedene Sorten Brie). Sunny und Heather hätten als Erwachsene bestimmt den gleichen Humor wie sie gehabt und mit ihr das Bewusstsein geteilt, wie absurd und wohltuend zugleich Austin sein konnte. Sie hätten hier gut leben können.
Und sterben. Auch hier starben Leute. Sie wurden auf einem Baugelände ermordet aufgefunden. Sie kamen bei Autounfällen auf den kurvenreichen Landstraßen im Hill Country
ums Leben. Sie ertranken, so wie bei der Flut am Memorial-Day-Wochenende 1981, als das Wasser so rasant angestiegen war, dass sich die Straßen in reißende Flüsse verwandelt hatten.
Miriam glaubte insgeheim – oder redete sich ein -, dass ihre Töchter ausersehen waren zu sterben. Dass man sowieso nichts daran hätte ändern können. Ihre Töchter waren bei der Geburt gezeichnet worden. Miriam hatte das Schicksal ihrer Kinder letztlich nicht in der Hand gehabt. Das war das Seltsame am Adoptivelterndasein; das Gefühl, dass es biologische Faktoren gab, auf die man keinen Einfluss hatte. Damals dachte sie noch, es sei gut, dass sie sich von vornherein damit abzufinden hatte, dass nicht alles in ihrer Hand liegen würde. Dass sie einfach hinnehmen müsste, wie die Kinder sich entwickelten. Leiblichen Eltern fiel so etwas meist viel schwerer.
Natürlich hatte sie den Vorteil, einen Teil von Sunnys und Heathers Familie zu kennen, Estelle und Herb Turner, ihre Großeltern mütterlicherseits. Miriam, die ihnen gegenüber anfangs so kritisch gewesen war, hatte sich schuldig gefühlt, nachdem sie die ganze Geschichte erfahren hatte – wie die wunderschöne Tochter Sally mit siebzehn von zu Hause weggelaufen war, um einen Mann zu ehelichen, den ihre Eltern ablehnten, und dann ihre Hilfe zurückwies, bis es zu spät war. 1959 war Durchbrennen noch so etwas wie ein lustiger Streich – die Leiter unterm Fenster, das junge Paar, das dabei ertappt wurde und am Ende den Segen der Eltern erhielt. Das war zu der Zeit, als Ehepaare im Fernsehen noch in getrennten Betten schliefen und über Sex nie geredet wurde. Miriam wusste Bescheid. Miriam erinnerte sich. Sie war schließlich nicht viel älter als Sally Turner gewesen.
Den Rest hatte sie sich selbst zusammengereimt, der laute, rohe Beau aus einer anderen Gesellschaftsschicht, die Einwände der Turners, die Sally als Snobismus abgetan hatte,die in Wahrheit aber untrügliche elterliche Instinkte waren. Nachdem
sie weggelaufen war und ihren geächteten Schwerenöter geheiratet hatte, war Sally wohl zu stolz gewesen, ihre Eltern um Hilfe zu bitten.
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