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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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Die Ehe wurde unterdessen immer gewalttätiger. Sunny war erst drei und Heather ein kleines Baby, als ihr Vater ihre Mutter erschoss und anschließend sich selbst umbrachte. Die Turners erfuhren, dass ihre Tochter tot sei und dass sie zudem zwei Enkeltöchter hätten. Sie brauchten jemanden, der sich um die Mädchen kümmerte. Zumal Estelle einen Monat vorher erst von ihrer Leberkrebserkrankung erfahren hatte.
    Die Idee, die Mädchen zu adoptieren, war von Dave gekommen, und obwohl Miriam seine Motive in Frage stellte – sie dachte, dass Dave mehr an der Bindung zu Estelle interessiert war als an den Mädchen -, war sie sofort damit einverstanden. Sie war gerade mal fünfundzwanzig und hatte bereits drei Fehlgeburten hinter sich. Und da waren zwei wunderhübsche Mädchen, die nur auf sie warteten, Mädchen, die keines langwierigen Adoptionsprozesses bedurften. Die Turners waren ihre einzigen Verwandten, soweit irgendwer wusste – eine Tatsache, die Jahre später von Detective Willoughby überprüft und bestätigt wurde, als er versuchte herauszufinden, ob es Verwandte väterlicherseits gab -, und so war es ihnen möglich, den Bethanys die Vormundschaft zu übertragen. Es war ohne Komplikationen vonstattengegangen. So grausam es sich auch anhören mochte, Miriam war froh gewesen, als Herb nach Estelles Tod seine Zelte in Baltimore abgebrochen hatte und nach Kalifornien gezogen war. Gleichzeitig verachtete sie ihn aber auch dafür. Was für ein Mann wollte nicht Anteil am Leben seiner Enkel haben? Selbst jetzt, wo sie die ganze Geschichte kannte, fiel es ihr schwer, sich über ihre anfängliche Abneigung den Turners gegenüber hinwegzusetzen, Herbs treue Hingabe für Estelle, seine Unfähigkeit, sich um jemand anderen zu kümmern oder zu mögen. Höchstwahrscheinlich war Sally durchgebrannt,
weil für sie kein Platz war in diesem wundervollen Zuhause in Sudbrook, in dem Herbs überbordende Liebe für Estelle alles für sich in Anspruch nahm.
    Die Mädchen hatten nie die ganze Wahrheit erfahren. Sie wussten natürlich, dass sie adoptiert waren, obwohl sich Heather immer geweigert hatte, es zu glauben, selbst noch, als Sunny Erinnerungen hervorbrachte, die sie gar nicht haben konnte (»Wir hatten ein Haus in Nevada«, verkündete sie Heather, »ein Haus mit einem Zaun und einem Pony!«). Sogar der ultra-aufrichtige, immer für die Wahrheit plädierende Dave schaffte es nicht, den Mädchen die ganze Wahrheit zu erzählen, über die beiden jungen Ausreißer, die Wut ihres leiblichen Vaters, den Tod zweier Menschen, weil Sally zu stolz gewesen war, zum Telefonhörer zu greifen und ihre Eltern um Hilfe zu bitten, um von dem Mann wegzukommen, den sie von Anfang an durchschaut hatten. Miriam war immer der Ansicht gewesen, dass die Mädchen nicht alles wissen mussten, während Dave meinte, dass sie es mit achtzehn, wenn sie etwas reifer wären, sehr wohl erfahren sollten.
    Die Fantasiegeschichte, die sich Dave als Zwischenlösung ausgedacht hatte, bereitete Miriam jedoch noch mehr Bauchschmerzen.
    »Erzähl mir von meiner anderen Mummy«, sagte Heather oder Sunny beim Zubettgehen.
    »Also, sie war wunderschön …«
    »Sehe ich so aus wie sie?«
    »Ganz genau so.« Es stimmte. Miriam hatte die Fotos bei den Turners gesehen. Sally hatte die gleichen blonden Haare, den gleichen schmalgliedrigen Körperbau gehabt. »Sie war wunderschön, und sie heiratete und zog mit ihrem Mann weg. Aber dann passierte ein Unfall …«
    »Ein Autounfall?«
    »Etwas in der Art.«
    »Was war es?«

    »Es war ein Autounfall. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben.«
    »Waren wir auch dabei?«
    »Nein.« Aber sie waren dabei gewesen. Dieser Teil war es, der Miriam Sorgen bereitete. Man hatte die Mädchen im Haus aufgefunden, Heather in einer Wiege, Sunny in einem Laufstall. Sie waren zwar im anderen Zimmer gewesen, aber dennoch, was hatten sie gesehen und gehört? Was, wenn sich Sunny an etwas erinnerte, das wirklicher war als Nevada, ein Haus und ein Pony?
    »Wo waren wir?«
    »Zu Hause mit einem Babysitter.«
    »Wie hieß sie?«
    Und Dave machte immer weiter, erfand immer mehr Einzelheiten, bis daraus schließlich die ungeheuerste Lüge wurde, die Miriam je zu Ohren gekommen war. »Wir sagen ihnen die Wahrheit, wenn sie achtzehn sind.«
    Als ob es ein Alter für die Wahrheit gäbe, als ob die Wahrheit mit Biertrinken oder dem Wahlrecht gleichzusetzen wäre. Miriam und Dave waren eifrig wie die Biber gewesen, hatten aber eher ungeschickt

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