Was die Toten wissen
verhört.
Indem sie den Interessenkonflikt zwischen Altem und Neuem, zwischen Fortschritt und Erhalt so sehr in den Vordergrund stellten, verkannten Miriams Freunde völlig, dass sie damit die Gräueltat eines Einzelnen pauschal aburteilten. Was wohl das Einzige war, was im liberalen Austin bestimmt nie funktionieren würde. Austin war so durch und durch liberal, dass sich Miriam schon fragte, wie liberal sie eigentlich war.
Als zum Beispiel das Jahr zuvor die Todesstrafe in Texas wieder eingeführt worden war, regten sich ihre Arbeitskollegen und Nachbarn heftig darüber auf. Sie diskutierten empört darüber, was für eine Schande es sei, dass Texas dem Beispiel Utahs folgte. Dabei war bisher nur ein Mensch hingerichtet worden. Miriam beteiligte sich nie an diesen Diskussionen, aus Angst, sie könnte sich lebhaft für die Todesstrafe einsetzen und
dabei ihre persönliche Trumpfkarte aus dem Ärmel ziehen – ihre eigene schmerzliche Erfahrung. Doch das war etwas, das sie niemals ausspielen wollte. Seit ihrer Ankunft in Texas vor sieben Jahren hatte sie das Privileg genossen, nicht Miriam Bethany, die arme, gepeinigte Mutter zu sein. Sie hieß auch nicht mehr Miriam Bethany. Sie nannte sich Miriam Toles. Selbst wenn die Namen der Bethany-Mädchen bei den endlosen Spekulationen über den Doppelmord am Lake Travis auftauchen sollten, würde sie niemand damit in Verbindung bringen.
Sie hatte sogar den Baltimore-Teil ihrer Vergangenheit vertuscht. Der falsche Partner, die Ehe ging in die Brüche, zum Glück kinderlos, ursprünglich aus Ottawa, das Klima hier ist viel angenehmer , das war alles, was die Leute von ihr wussten.
Es gab immer wieder Augenblicke, meist unter dem Einfluss von Wein oder Gras, in denen Miriam drauf und dran war, sich jemandem anzuvertrauen. Niemals einem Mann, denn obwohl es ihr bemerkenswert leichtfiel, Männer kennenzulernen und mit ihnen ins Bett zu gehen, wollte sie unter keinen Umständen einen festen Freund, ganz gleich von welchem Schlag, und diese Art von Enthüllung hätte vielleicht dazu geführt, dass etwas Ernstes daraus geworden wäre. Aber sie hatte sich mit ein paar Frauen angefreundet, unter anderem mit Rose, die ihr gegenüber ihre eigenen Geheimnisse angedeutet hatte. Die 37-jährige Anthropologiestudentin – Austin war voll von Langzeitstudenten – war im Anschluss an eine Party noch geblieben und hatte Miriam beim Wort genommen, als sie den Whirlpool hinten im Garten vorschlug. Während sie eine Flasche Wein kippten, fing Rose an, von einem abgelegenen Dorf in Belize zu erzählen, wo sie einige Jahre verbracht hatte. »Es war traumhaft und unwirklich«, erzählte sie. »Nachdem ich dort gelebt habe, glaube ich, dass magischer Realismus nicht bloß ein literarischer Stil ist. Mir kommt es eher so vor, als schrieben diese Typen über Dinge, die tatsächlich wahr sind.« Irgendwie ging es dabei um Vergewaltigung, aber sämtliche Personalpronomen
schienen aus Roses Sprache verschwunden zu sein, und deshalb war es unmöglich, herauszufinden, ob sie Opfer oder Zeugin gewesen war. Miriam und Rose drehten sich um das Feuer ihrer jeweiligen Vergangenheit, wobei jede von ihnen wunderschöne Schatten erzeugte, die der anderen erlaubten, willkürliche Schlüsse zu ziehen. Aber danach waren sie nie mehr so vertraut miteinander, sehr zu Miriams Erleichterung und wahrscheinlich auch zu Roses. Eigentlich hatten sie sich danach kaum noch gesehen.
An der nächsten Ampel blätterte Miriam in ihrem Filofax und warf einen Blick auf die Adresse des ersten Termins. Ein Mann auf der Straße starrte sie an, und sie fühlte sich als Selfmade-Frau, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Es stimmte schon, finanziell war es ihr gut ergangen, nachdem sie hier mit kaum etwas angefangen hatte. Das beige Filofax, Schuhe und Kostüm von Joan Vass, der Saab mit Klimaanlage – diese Äußerlichkeiten erlaubten ihr, ihren Erfolg in Austin-gerechter Art darzustellen. Aber Miriam war viel mehr daran gelegen, sich selbst neu zu erfinden, sich in diese andere Person, Miriam Toles, zu verwandeln, die es ihr erlaubte, ohne sichtbare Anzeichen einer Tragödie durch den Tag zu kommen. Es war schon schwer genug, in ihrem tiefsten Innern Miriam Bethany zu sein. Miriam Toles war die bonbonfarbene Hülle, diese dünne Schicht, die all die Unordnung drinnen behielt, wenigstens gerade so.
»Sie schmelzen ja doch«, hatte sich Heather beschwert und ihrer Mutter die Handflächen gezeigt, die orange, gelb,
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