Was gewesen wäre
sagte meine Mutter und wischte sich den Rotz mit dem Handrücken ab. »Und verdenken kann ich dir nichts. Du musst wissen, was du machst. Verdenken kann ich dir nichts.« Ich schob sie später sanft die Treppen des Zuges hoch und sagte: »Ich werde da sein. Du wirst sehen.«
Ich sah den beiden runden roten Lichtern ihres Zuges nach, wie sie die dunkle Halle des Bahnhofs verließen, die stählern auf einem Viadukt hockte wie in der Friedrichstraße. Dort waren wir von einem speziellen Gleis losgefahren, abgetrennt durch eine Wand von dem normalen Bahnsteig, der für die Ostberliner war. Ein paar Stationen später waren wir am Bahnhof Zoo. In einer anderen Welt. »Eine Allianz fürs Leben« stand über der Ausfahrt, durch die der Zug verschwand. Tauben segelten unter dem Bahnhofsdach, und mir wurde erst jetzt bewusst: Wenn der Zug meiner Mutter wieder einfahren würde, hier in den Bahnhof Zoo, dann ist mein Ausflug in die Freiheit vorbei, und die vierzehn Tage surrten plötzlich zusammen wie ein Wollfaden, an den man ein Streichholz hält. Ich schulterte meine Kraxe und machte mich auf den Weg, ein Telefon zu suchen.
Steil führte die Treppe runter in die Bahnhofshalle. Ich hatte das Gefühl, dass alle mich ansehen und sofort erkennen würden, dass ich aus dem Osten komme. An meinen Schuhen, meiner Jacke, meiner Frisur. In der Bahnhofshalle warf ich ein paar Westmünzen, die mir meine Mutter zusammen mit drei Zehnmarkscheinen als eiserne Ration gegeben hatte, in einen Münzfernsprecher und rief Jana an. Es tutete tiefer als bei uns. »Wo stehst du denn?«, sagte Jana, und sie kreischte fast.
»Schräg gegenüber ist das Klo«, sagte ich und sah einem alten Mann nach, der die Haare fettig zurückgekämmt trug und in seinem mindestens zwei Nummern zu großen schwarzen Mantel fast versank.
»Zielsicher an der falschen Stelle. Geh da weg, da hängen nur Junkies, Penner und Nutten rum. Geh zur U-Bahn. Ja? Linie U1. Bevor es da runtergeht, da ist ein Bratwurststand. Stell dich da hin, ich hol dich ab. Da passiert dir nichts.«
Ich musste lachen: »Ich will keine Bratwurst, und was soll mir denn passieren?«
»Mach, was ich dir sage«, sagte Jana, und eine halbe Stunde später kam sie aus dem gelb gekachelten Gang, der zur U-Bahn führte und durch den sich die Menschen eng aneinandergedrängt schoben. Sie trug eine knallenge Jeans und ein rotes Top, ihre Haare waren ein Meer aus Locken, durchzogen von feinen Strähnchen, und sie blieb, als sie mich entdeckte, für eine Sekunde stehen. Dann rannte sie auf mich zu, umarmte mich, und wir fingen beide an zu heulen. Janas Mascara verlief in Schlangenlinien Richtung Oberlippe, und ich schluchzte und sagte: »Ach Mensch, eh. Wie schön.« Nahm ihr Gesicht in die Hände, küsste ihre nasse Wange und sagte: »Und ich will so Locken, genau so Locken will ich auch.« Jana schnäuzte sich: »Kriegste, ich kenn da eine, die macht die dir für’n paar Mark.« Dann schulterte sie mit Schwung meine Kraxe, strich mir über meine glatten Haare wie einem Kind und sagte: »Los, komm.«
Wir fuhren mit der U1 Richtung Kreuzberg. Vorher waren es von Friedrichstraße bis zum Bahnhof Zoo nur drei Stationen gewesen, aber jetzt fuhr die U-Bahn ewig durch Westberlin, am Nollendorfplatz raus ans Tageslicht und weiter oben auf einem Viadukt. Es war ein kühler Sommertag, aber mir kam es vor, als schiene die Sonne. Ich hielt Jana im Arm, wir kicherten, und es roch nach fremden Waschmitteln, Shampoos und Parfüms. Der ganze Waggon roch wie ein Westpaket. Einer mit langen Haaren und einer grünen Latzhose sang zur Gitarre »Bridge over Troubled Water«, und hinter ihm ging ein Mädchen mit verfilzten dunkelroten Haaren, ohne Schuhe mit dreckigen Füßen und sammelte das Geld ein in einer aufgeschnittenen Bierdose. Sie lächelte mich an, obwohl ich ihr kein Geld gab, und ihrem linken Schneidezahn fehlte eine Ecke.
Wir stiegen zweimal um und landeten in der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Ich zeigte auf das blaue Schild der U-Bahn, mit seinem Namen, und Jana lachte und sagte: »Ja, der verfolgt mich. Mohr und die Raben von London, wohl eher Jana und die Ratten von Neukölln.«
Ich setzte den Wasserkessel auf den Gasherd und hörte, wie Jana den Flur entlang vom Schlafzimmer zur Küche kam. Die lag ganz vorn am Eingang. Daneben ein kleines Klo mit Dusche und dahinter dann zwei Zimmer mit Kachelöfen. Vor dem Küchenfenster stand ein kleiner runder Holztisch, und dort setzte ich mich hin und sah in den
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