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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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Dreiraumwohnung in der östlichen Altstadt, die Tobias aufgebrochen und besetzt hatte, lange bevor ich nach Rostock zum Medizinstudium kam. Schon auf der Treppe nach oben heulte ich, obwohl ich den Brief noch gar nicht aufgemacht hatte. Aber ich erkannte Konrad Adenauer, den großen Kopf mit wenig Gesicht, auf der Briefmarke, und Berlin/West hatte Jana mit einem roten Stift auf den Absender geschrieben. Zweieinhalb Jahre hatte sie gewartet, und dann wurde sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus der DDR rausgeschmissen. Das machten sie gern, das wusste man, aber trotzdem war es dann überraschend für mich. »Liebe Assi, nicht weinen, ja? Ich bin raus. Endlich!«, stand da und: »Wir werden uns wiedersehen. Ich weiß auch noch nicht, wie, aber ich werde dich nicht vergessen.«
    Jana drehte sich im Bett von mir weg, klemmte sich die Decke zwischen die Beine und murmelte etwas. Vor dem Fenster im Hinterhof warf jemand eine Flasche in den Glascontainer, und es schepperte gewaltig, höhlenartig von den Wänden des Hinterhofes zurückgeworfen. »Arschloch«, hörte ich jetzt deutlich von Jana, doch sie machte keine Anstalten, wach zu werden. Aber ich wurde richtig wach mit einem Mal, und der gestrige Abend mit Sascha und Julius’ Vater machte sich breit in meinem Kopf, klarer, als mir lieb war. »Wir machen es so oder so«, höre ich Julius’ Vater sagen. Er hatte kurz aufgesehen von seinem Nachtisch, dieser weißen, köstlichen Creme in einer Erdbeersoße, er hatte mich angesehen und dann mit dem Löffel in die weiche Masse hineingestochen. Das Panna cotta beugte sich ein wenig unter dem Druck des Löffels, aber ließ sich dann teilen, und die Schnittstelle färbte sich rot von der Soße.
    Es war erst mein zweiter Abend im Westen. Den ersten hatten Jana und ich bei ihr zu Hause verbracht. Wir haben in der Küche auf dem Fensterbrett gesessen und Büchsenbier von Aldi getrunken. Unsere Füße baumelten wenige Zentimeter über dem Boden aus Beton. »Hinterhof Parterre. Für mehr reicht es noch nicht«, hatte Jana gesagt, aber mir kam das alles ganz wunderbar vor. In der gegenüberliegenden Ecke saß ganz still ein altes Ehepaar aus dem Libanon auf einem abgeschabten Ledersofa. Er aß die ganze Zeit Sonnenblumenkerne, und hin und wieder rauchte er, und sein Gesicht wurde kurz erleuchtet, wenn er an der Zigarette zog. Sie hatte die Beine ausgestreckt und hielt die Arme verschränkt. Durch das Kopftuch konnte man ihr Gesicht nicht erkennen, und ich fragte mich, ob sie schlafen würde. Die beiden sagten kein Wort. Der Mond stand hoch oben in dem Quadrat, das die vier Häuserwände um den engen Hinterhof bildeten und wir quatschten und lachten so lange, bis Frau Kruppke aus dem dritten Stock herunter rief: »Schnauze da unten, sonst hol ich die Bullen.«
    »Selber Schnauze, du Schlampe«, brüllte Jana zurück, aber wir gingen dann doch ins Bett, weil ich völlig erledigt war von diesem ersten Tag.
    Ich hatte Jana vom Bahnhof Zoo aus angerufen, nachdem ich dort ausgestiegen war und meine Mutter alleine weiterreiste nach Darmstadt. Sie fuhr zum achtzigsten Geburtstag von Tante Inge. Das war die Schwester meiner Großmutter, und zu unserer Überraschung hatten die Behörden nicht nur meine Mutter rausgelassen, sondern auch ich durfte zum ersten Mal mitreisen. Ich hatte genau wie meine Mutter jedes Jahr einen Antrag gestellt, doch während ihrer jedes Jahr genehmigt wurde, wurde meiner jedes Jahr abgelehnt. Aber nun zum achtzigsten Geburtstag von Tante Inge hatte man sich das offensichtlich anders überlegt. Ich durfte ausreisen, ohne ein Pfand in der DDR zu lassen, ein Kind oder irgendeine Form von Besitz.
    Meine Mutter war noch in der Grillbar am Alex, in der wir den Abschied feierten, in Tränen ausgebrochen, noch während des Essens, über einem Schweinesteak mit Kräuterbutter und Kartoffelkroketten, obwohl ich ihr mehrfach gesagt hatte, dass ich wiederkommen würde, so wie sie. Wenn die zwei Wochen genehmigter Urlaub vorbei waren, würde ich wieder in den Zug am Bahnhof Zoo einsteigen, und wir würden gemeinsam zurück in den Osten fahren. »Versprochen, Mutti, wirklich. Ich bleib nur die zwei Wochen hier bei Jana. Grüß Tante Inge von mir, wenn sie sich noch erinnert.« Meine Mutter lächelte über ihr verheultes Gesicht. Tante Inge war seit Jahren dement und erinnerte sich schon an sie nicht mehr, geschweige denn an mich. Die Einladung an uns wurde jedes Jahr von ihrer Tochter erledigt. »Mach das, mein Kind«,

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