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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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wir alle zehn Minuten zehn Strichmännchen malten und durchstrichen. Die standen für, ich weiß nicht, 1000 oder 10000 Menschen, die in diesen zehn Minuten an Hunger und Krieg weltweit starben.«
    Astrid lehnte sich mit der Schulter an die Kirche, verschränkte die Arme und hörte ihm zu. Paul redete sich in Rage, mehr, als ihm lieb war. »Und du darfst nicht vergessen, das hier sind Katholiken, also du hast dauernd Messen hier am Wochenende gehabt. In den Achtzigern sowieso. Die Leute haben sich einen Dreck darum gekümmert. Niemand hat uns gefragt, was wir da machen und warum. Die haben uns nicht mal angeguckt. Und wir durften ja nichts sagen, weil wir uns für dieses Wochenende ein Schweigegelübde auferlegt hatten.«
    Paul schob beide Hände in die Taschen seines Trenchcoats, weil ihm das viele Rumgestikulieren unangenehm war. Der gepflasterte Kirchplatz war vollkommen leer. Kein Mensch zu sehen. »Aber wir haben das damals durchgehalten. Auch nachts hat immer einer von uns alle zehn Minuten diese Strichmännchen gemalt und durchgestrichen. Das Gefühl, diese Sicherheit im Tun, wünsche ich mir manchmal zurück.«
    Paul und Astrid steigen den Berg hoch zum Schloss und zur Fischerbastei, und die Touristendichte wird deutlich größer. Überall stehen kleine Buden, die irgendwas verkaufen. Scheußliche Tassen mit roten Punkten, Postkarten, Aufkleber. Paul denkt an seine Arbeit im Radio. An die Interviews, die er seit über fünfzehn Jahren in der Frühsendung führt, und an die kleinen Glücksmomente, wenn einem der Politiker mal ein Satz herausrutscht, den ihm der Referent vorher nicht aufgeschrieben hat. Er hat Astrid gesagt, dass ihn seine Arbeit seit geraumer Zeit langweilt und dass das Schönste eigentlich ist, wenn er morgens um halb vier vom Wedding aus mit dem Auto zur Arbeit fährt durch die leere Stadt. Vorbei am Schloss Bellevue und dann manchmal völlig allein um den riesigen Kreisverkehr an der Siegessäule. Wann immer er dort wirklich allein ist, fährt er so lange um diesen goldenen Engel herum, bis ein Auto kommt, was meistens nicht sehr lange dauert. Einmal hat er fünf Runden geschafft. Und jetzt im Frühling singen um diese Zeit noch die Nachtigallen im dunklen Tiergarten, und er fährt immer mit heruntergelassenen Scheiben. »Aber Paule, du hast noch über zwanzig Jahre zu arbeiten, dann musst du dir was einfallen lassen«, hatte Astrid daraufhin gesagt, und Paul schluckte ein »Jawoll, Frau Doktor« runter.
    Oben auf dem Berg angekommen, zieht Astrid Paul neben sich auf eine Bank, die zwischen Schloss und Fischerbastei liegt. Sie tut dies blitzschnell, weil gerade ein Platz frei geworden ist. Paul lässt sich neben sie fallen, und sie sehen über die tiefgrünen Baumkronen hinunter in das Donautal. Das Parlamentsgebäude auf der anderen Flussseite, denkt Paul, sieht aus wie Westminster in Zuckerguss.
    Astrid fand Pauls Heimatstadt damals austauschbar, nur die Weser war wirklich schön. Es gab überall eine hässliche Einkaufsstraße und oft eine kleine Fachwerkkirche. Am meisten hatte sie Pauls Mutter interessiert, wie sie gemeinsam in der Küche beim Abendessen saßen und Hühnerfrikassee aßen. Mit Kapern und Reis. Anfangs hatte Pauls Mutter sie noch mit Fragen bedacht, aber nach einer Weile erzählte sie ihrem Sohn ausführlich von ihren Kleinstadtsorgen. Dass das Dach repariert werden müsste, bald, dass die Nachbarin die Hecke nicht schneidet auf ihrer Seite. Paul antwortete sichtlich und hörbar genervt, aber die kleine Frau im grauen Rock und mit einer gebügelten weißen Bluse, deren graue Haare sehr dünn waren und von einer Kaltwelle durchzogen, redete weiter, als würde sie den Unmut in der Stimme ihres Sohnes nicht wahrnehmen. Es gab keine zärtlichen oder persönlichen Gesten zwischen den beiden.
    Aber daran denkt sie nicht, während sie runter auf die Donau guckt. Sie denkt an Julius, ununterbrochen denkt sie an ihn und an diese vertrackte Geschichte und daran, dass sie hier ein Ende finden würde. Vielleicht. Sie erinnert sich daran, wie sie hier vor über zwanzig Jahren mit ihm durch die Nacht gefahren war vom Gellért Hotel zu diesem illegalen Zeltplatz. Sie sieht auf die Dächer der Stadt, auf das Durcheinander der Straßen. Julius hatte das Taxi über das Zimmertelefon bestellt und sicher mit Westgeld bezahlt am Schluss, denn einfach so gab es ja damals gar keine Taxis. Sie hatten hinten auf der Sitzbank gesessen und geknutscht die ganze lange Fahrt. Es war unglaublich heiß

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