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Was ich dir noch sagen will

Was ich dir noch sagen will

Titel: Was ich dir noch sagen will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofie Cramer
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duftend-heißen Kaffee.
    «Sie sind häufiger hier, richtig?», wagte sich Lisa ein wenig vor.
    Herr Griesgram nickte schweigend und hielt die Tasse fest umklammert, als müsse er sich daran festhalten.
    «Wir wohnen ganz in der Nähe», versuchte Lisa es weiter, «außerdem habe ich einen Laden in einer der Nebenstraßen. Deswegen komme ich öfter hier vorbei und –»
    Auf einmal sah der Mann auf und sagte: «Ich hatte auch mal einen Laden.»
    «Ach wirklich?», fragte Lisa neugierig. «Was genau haben Sie denn gemacht, bevor Sie …»
    Lisa unterbrach sich.
    «Sie meinen, bevor ich ein Penner geworden bin?», fragte er unumwunden und lächelte plötzlich wieder sein warmes Lächeln. Sein Blick war so direkt und so ehrlich, dass er damit unterstrich, wie wenig Sinn es haben würde, die Wahrheit mit Worten zu beschönigen. «Was schätzen Sie, wie alt ich bin?», fragte er sichtlich gespannt und in einer Weise, die ihm offensichtlich Freude bereitete.
    Erik sah ihn etwas abschätzig an. «Ich tippe, Sie sind über 60, aber unter 70.»
    Der Mann lachte amüsiert auf, was Lisa in ihrer Einschätzung noch weiter verunsicherte. Ob er älter als 70 war?
    «Was sagst du, Lisa?», forderte Erik sie auf.
    «Ich weiß nicht.» Die Situation war ihr unangenehm, wie leicht konnte sie etwas Verletzendes sagen. «Also … Ich würde auch schätzen: so um die 70. Vielleicht auch Mitte 70?»
    Der Mann seufzte tief. «54. Ich bin 54!»
    Der Schock darüber, dass ein verhältnismäßig junger Mann aufgrund seines Schicksals zwanzig Jahre älter wirkte, saß bei Lisa und Erik so tief, dass sie für einen Moment nichts mehr sagen konnten.
    Der Mann griff in die Innentasche seines Mantels, zog eine völlig verknitterte Visitenkarte hervor und legte sie vor Erik auf den Tisch.
    Erik griff danach und las laut den Namen vor, der darauf stand: «Georg Sellmann.»
    «Das bin ich, genau», sagte der Mann mit einem gewissen Stolz in der Stimme und plauderte munter drauflos.
    Er war sich auch nicht zu schade, die deprimierenden Einzelheiten seines sozialen Abstiegs zu erläutern. Vom Inhaber eines gutgehenden Sportgeschäfts und verheirateten Familienvater zu einem einsamen, kranken Mann, der nun schon seit über zehn Jahren kein echtes Zuhause und keine Perspektive mehr hatte.
    Betroffen und andächtig lauschten Erik und Lisa seiner Geschichte. Sie erfuhren, dass Georg – wie er von ihnen genannt werden wollte – einen Haufen Schulden von seinem Vater geerbt hatte. Über die Geldsorgen war es dann zum Bruch mit seiner Frau gekommen, die ihn, soweit man ihm glauben konnte, betrogen und beklaut hatte. Doch das fand Georg erst heraus, als es bereits zu spät war und sie sich mit dem damals elfjährigen Sohn Florian ins Ausland abgesetzt hatte. Nur kurze Zeit später wurde er mit der Diagnose Prostatakrebs konfrontiert und musste sich einer zwar letztlich erfolgreichen, aber auch langatmigen, zermürbenden und vor allem kostspieligen Therapie unterziehen. Schließlich war er gezwungen, das Geschäft und damit seine Existenz aufzugeben.
    Lisa war voller Mitgefühl. Dieser Mann hatte buchstäblich alles verloren. Trotzdem beschlich sie eine Ahnung, dass derartige Schilderungen womöglich recht einseitiger Natur waren und er sicher auch einen gewissen Anteil an seinem traurigen Lebenslauf gehabt hatte.
    Als Georg dann auch noch ein Foto seines Sohnes aus der Hemdtasche hervorholte, das an den Rändern etwas eingeknickt und insgesamt leicht vergilbt war, fiel es ihr unendlich schwer, so zu tun, als könne sie auch nur einen Bissen ihrer Müslistange genießen. Dennoch nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte, was ihr schon die ganze Zeit auf dem Herzen gelegen hatte.
    «Hast du denn nicht mal versucht, deinen Sohn ausfindig zu machen?»
    Georg winkte ab und murmelte etwas davon, dass die Suche eh keinen Sinn haben würde. Dann widmete er sich dem sahnigen Stück Torte.
    «Es geht doch nichts über ein gemütliches Plätzchen», sagte er nach dem letzten Bissen sichtlich zufrieden. Mit beiden Händen umklammerte er den warmen Kaffeebecher. Seine Fingernägel wirkten brüchig und abgewetzt und ließen dunkle Schmutzstreifen darunter erkennen.
    Trotzdem war Georg insgesamt eine recht würdevolle Erscheinung.
    Lisa studierte aufmerksam sein Gesicht und versuchte, darin die Spuren seiner Geschichte abzulesen, die ihn letztendlich zu einem Leben auf der Straße gezwungen hatte. Doch es war vor allem der auffallend warme Blick seiner klaren blauen

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