Was ich dir noch sagen will
meisten aber freute sich Lisa, dass ihre Probekollektion für Kleinkinder innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war. Bis auf ein Kleid, das sie Emi zu Weihnachten schenken wollte, und einen süßen Kapuzenpullover für Katjas Sohn, den sie ebenfalls rechtzeitig zur Seite gelegt hatte, waren sämtliche Kleidungsstücke aus den bunten Nickistoffen sofort vergriffen. Der reißende Absatz überzeugte sowohl Lisa als auch Jutta restlos, und sie beschlossen, das Angebot für die Kleinen noch zu erweitern.
Sogar am gestrigen Heiligabend hatten Kunden bis zum Geschäftsschluss um 13.00 Uhr den Laden belagert. Dabei wollte Lisa pünktlich Schluss machen, um noch eine besondere Lieferung aus ihrem Laden persönlich zuzustellen.
Sie hatte für Georg Sellmann ein kleines Weihnachtspäckchen aus ihrer Kollektion geschnürt, einen dicken Schal und dazu passende Handschuhe mit gefüttertem Wildleder. Die Sachen wollte sie ihm noch vor den Festtagen überreichen, weil sie hoffte, ihm damit eine kleine Freude machen zu können.
Nach ihrer ersten Begegnung und dem ungewöhnlichen Kaffeetrinken hatte sie ihn noch öfter gesehen und sogar einmal mit ihm geplaudert. Doch schon bei der nächsten Begegnung war Lisa um ein echtes Gespräch verlegen gewesen, sodass sie ihm danach nur noch von weitem zuwinkte, wenn sich ihre Blicke zufällig trafen. Weil sie dabei aber irgendwie Scham empfand, hatte sie beschlossen, ihm zu Weihnachten ein Geschenk zu machen.
Schon vor den Feiertagen hielt sie vermehrt nach ihm Ausschau, wenn sie die Osterstraße entlangging. Doch er blieb unauffindbar, sodass sie an Heiligabend schließlich unverrichteter Dinge nach Hause ging.
Lisa und Erik waren für den Abend mit Eriks Mutter verabredet. Sie wollten eine kleine Feier bei ihnen in der Wohnung machen, und Erik hatte sich zuvor um alles gekümmert. Er hatte den Großeinkauf erledigt, einen kleinen Tannenbaum besorgt und sogar geschmückt, und seine Mutter abgeholt.
Als Lisa dann am Nachmittag mit dem Paket für Georg Sellmann unterm Arm die Wohnung betrat, roch es bereits sehr köstlich nach dem leckeren Fischgericht, das Erik zubereitet hatte.
Doch irgendwie fühlte sich Lisa an dem Abend nicht richtig wohl. Immerzu musste sie an Georg Sellmann denken und daran, wie er wohl das Weihnachtsfest verbrachte. Beinahe wäre ihr sogar das Essen im Halse stecken geblieben. Die ganze Zeit über hatte sie die vielen Geschenke im Blick, die sie sich gemacht hatten: den Brotbackautomaten von Renate, den Cashmere-Pullover, den sie neben einigen weiteren Kleinigkeiten für Erik ausgesucht hatte, und auch ihre Designer-Armbanduhr, die sie sich schon so lange gewünscht und dieses Jahr endlich von Erik geschenkt bekommen hatte.
Und so war es ihr ein Bedürfnis gewesen, Renate während des Essens von der denkwürdigen Begegnung mit dem Obdachlosen zu berichten – und von dessen einsamem Schicksal. Natürlich erwähnte sie mit keinem Wort die Hintergründe dieser Aktion und ihre Liste, geschweige denn wie sie auf die Idee gekommen waren. Vielmehr hatte sie das Ganze als zufälliges Treffen beim Bäcker geschildert und Erik einen verschwörerischen Blick zugeworfen. Dennoch hatte ihre Schwiegermutter bloß einen abschätzigen Kommentar für den Verlauf des Treffens übrig. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum um Himmels willen man einen Wildfremden zu Kaffee und Kuchen einladen musste. Erik war Lisa zwar beigesprungen, doch er hatte Georg Sellmanns Schicksal abschließend ganz anders bewertet. Letztlich sei dieser ohne Familie wohl besser dran gewesen, schließlich habe ihn seine Frau am Ende ins Verderben gezogen. Lisa stand mit ihrem Mitgefühl also alleine auf weiter Flur. Es war doch furchtbar, keinen Menschen in seiner Nähe zu haben, der einen liebte oder an einen dachte – nicht mal an Weihnachten. Aber die beiden waren ihre sentimentalen Appelle einfach übergangen, sodass Lisa schließlich aufgegeben und den Rest des Abends nur noch sehr wenig zum Tischgespräch beigetragen hatte. Und als Renate mal wieder auf ihre sehr direkte und übergriffige Art zum Ausdruck brachte, wie sehr sie sich ein Enkelkind wünschte, da wäre Lisa beinahe der Kragen geplatzt.
Erik ignorierte solche Äußerungen schon allein aus Prinzip, doch Lisa konnte an diesem Heiligabend nur schwer damit umgehen und musste sich innerlich mehrfach ermahnen, dem Anflug von Traurigkeit nicht nachzugeben.
Umso mehr freute sich Lisa heute, am ersten Weihnachtstag, auf den Besuch bei
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