Was ich dir noch sagen will
umzuziehen», entgegnete Erik. «Du bist echt total unentspannt.»
Innerlich wäre Lisa fast der Kragen geplatzt, doch sie beschloss, für den Rest der Fahrt zu schweigen. Sie würde sich von Erik nicht weiter provozieren lassen. Nicht heute.
Im Radio spielten sie ein Weihnachtslied nach dem anderen. Bei «Driving home for Christmas» von Chris Rea, Lisas Lieblingslied, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Aber sie riss sich zusammen, um Erik nichts von ihren verletzten Gefühlen zu zeigen, und schon gar nicht ihren Eltern, die ihr sofort ansehen würden, dass etwas nicht stimmte.
Als sie mit zwanzig Minuten Verspätung bei ihren Eltern ankamen, lief Emi ihnen sofort freudig entgegen. Sicher ahnte sie, dass sie noch ein Geschenk bekommen würde. Lenny hatte ihr vermutlich erzählt, der Weihnachtsmann hätte es bei Lisa abgegeben.
Nach der turbulenten Begrüßung durch ihre Nichte und dem warmen Empfang ihrer Eltern und Agnes und Lenny war Lisa dankbar, dass Emi sich sofort daranmachte, ihr Geschenk aufzureißen, und somit alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Tatsächlich freute sie sich über das hübsche Kleid, sprang aufgeregt durchs weihnachtlich dekorierte Wohnzimmer und wollte es sofort anziehen.
Niemand schien die Angespanntheit zwischen Erik und ihr zu wittern.
Nach der Suppe erzählte Lisas Mutter mit glänzenden Augen vom gestrigen Abend. Wie der Weihnachtsmann plötzlich aufgetaucht war und wie Emi ihm so tolle Gedichte aufgesagt hatte. Alle Blicke richteten sich jetzt auf Lisas Nichte, und man konnte sehen, wie stolz sie auf ihre Leistung war. Auch Lenny und Agnes lächelten glücklich. Es war fast ein seliges Lächeln, mit dem sie ihre Tochter bedachten.
Dann fragte Lisas Vater, wie denn ihre kleine Feier mit Eriks Mutter gewesen wäre und ob sie sich einen schönen Abend gemacht hätten. Lisa hatte partout keine Lust darauf zu antworten und sah stattdessen Erik auffordernd an. Der legte demonstrativ die Hand auf ihre Schulter und streichelte sie sanft, während er ausführte, wie ruhig und harmonisch der Abend gewesen wäre. Als er dann in einem ironischen Ton ergänzte, dass es auch Vorteile habe, wenn die Familie nur aus einem Mitglied bestand, versetzte dies Lisa einen leichten Stich.
Ihre Eltern schmunzelten über seine vermeintlich scherzhafte Äußerung, doch Lisa wusste, dass darin in Wahrheit gar keine Ironie lag.
Aber es lag noch etwas anderes in der Luft, das Lisa immer wieder irritiert von einem Gesicht zum anderen blicken ließ. Als sie ihrer Mutter in der Küche für den Hauptgang zur Hand ging und den Rotkohl und die Klöße auf die Teller füllte, fragte sie: «Sag mal, ist alles in Ordnung? Irgendwie tut ihr alle so geheimnisvoll.»
Doch ihre Mutter antwortete nicht, sondern lächelte nur versonnen. Sie zuckte mit den Schultern und widmete sich weiter dem Zerlegen des duftenden Gänsebratens.
«Nun sag schon», ermahnte Lisa ihre Mutter. «Ihr habt doch irgendwas.»
Gutgelaunt sah ihre Mutter sie an und entgegnete nur: «Lass dich überraschen!»
Als sie an den Tisch zurückkamen, hielt auch Emi die komische Spannung offenbar nicht mehr aus. Gerade als Lisas Vater das Glas erheben und allen noch einmal fröhliche Weihnachten und einen guten Appetit wünschen wollte, platzte es aus ihr heraus: «Mama und Papa haben eine Überraschung!»
Lisa sah Emi fragend an.
«Ich krieg einen kleinen Bruder!», erklärte ihre Nichte feierlich und strahlte in die Runde.
«Aber Emi», warf Lenny lachend ein, «wir wissen doch noch gar nicht, ob es ein Junge wird. Vielleicht bekommst du ja auch eine Schwester!»
Alle stimmten in das Lachen ein. Alle bis auf Lisa. Sie spürte, wie die freudigen Blicke ihrer Eltern auf ihr ruhten und eine Reaktion von ihr erwarteten. Also atmete sie tief durch und stürmte dann auf Lenny und Agnes zu, so, wie es von ihr erwartet wurde. Sie umarmte erst Agnes und dann Lenny, und es fiel ihr wahnsinnig schwer, ihren Bruder wieder loszulassen. Doch Erik stand bereits hinter ihr, um ebenfalls zu gratulieren.
«Glückwunsch!», sagte er. «Wir freuen uns sehr für euch.»
Während sie sich wieder auf ihren Platz setzten, versuchte Lisa, den dicken Kloß in ihrem Hals nach allen Kräften zu ignorieren.
Erst als der Hauptgang und auch das Gespräch über den errechneten Geburtstermin im Herbst sowie Agnes’ allgemeines Befinden beendet waren, flüchtete sich Lisa aufs Klo, um ein paar Tränen zu verdrücken. Sie hoffte, dass niemand etwas bemerken und sie auch
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