Was ich dir noch sagen will
kurzen, beklemmenden Pause: «Wir hatten uns gestritten.»
Ihre Schwiegermutter sah sie irritiert an. «Wie bitte? Ihr habt gestritten?»
Lisa nickte zaghaft. «Ein Wort hat das andere ergeben. Und dann ist Erik zur Tür rausgerannt. Wenn er nicht so wütend gewesen wäre, wäre ihm sicher nichts passiert.»
Plötzlich war die Atmosphäre in dem ohnehin schon kalten Zimmer zum Schneiden. Das unerträgliche Schweigen weitete sich aus, sodass Lisa glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie fürchtete, jeden Augenblick würden die schlimmsten Vorwürfe über sie hereinbrechen.
Da klopfte es an der Tür. Eine Schwester schaute herein und bat sie, draußen Platz zu nehmen, weil sie noch alles für die Untersuchung vorbereiten musste.
Lisa holte noch schnell den Zettel von ihrem gestrigen Besuch unter Eriks Kopfkissen hervor und legte ihn in die Schublade. Gleichzeitig fragte sie sich, ob Renate ihn wohl gelesen hatte.
Früher hätte es ihr etwas ausgemacht, dachte Lisa. Doch jetzt war es ihr ganz egal, ob Renate ihre Nase in Dinge steckte, die sie eigentlich nichts angingen.
Obwohl Lisa ihre Schwiegermutter eigentlich mochte, waberte zwischen ihnen immer etwas Unausgesprochenes, von dem sie nicht zu sagen vermochte, was es genau war.
«Soll ich uns einen Kaffee holen?», fragte Lisa unsicher, als sie auf den Flur traten. Sie wollte nicht länger als nötig mit Renate alleine sein.
Eriks Mutter nickte. «Sehr gern.»
«Ich bin gleich wieder da», erklärte Lisa schnell und marschierte Richtung Fahrstühle.
Warum nur fiel es nicht nur Erik, sondern auch ihr so schwer, Renate so zu akzeptieren, wie sie war? Niemals hätte ihre Schwiegermutter sie offen kritisiert. Immer war sie unglaublich kontrolliert und hielt mit ihren Gefühlen hinterm Berg. Aber unter ihren subtilen Vorwürfen und der ständigen Kritik hatte Erik sein Leben lang gelitten, das wusste Lisa.
Während sie wieder einmal den nicht enden wollenden Flur entlangging, der sich so beklemmend anfühlte wie ein auswegloser Tunnel, kam ihr plötzlich ein neuer Gedanke. Vielleicht hatte Erik keine andere Chance gehabt, als seinen Protest im Stillen auszudrücken, weil sein Mitgefühl für diese einsame Frau einfach zu groß war. Vielleicht fühlte er sich deshalb so getrieben und musste immer wieder an seine eigenen körperlichen Grenzen gehen, um sich frei zu fühlen und seine eigene Kraft zu spüren. Vielleicht war der Extremsport seine Art der Rebellion.
Wie oft hatten sie schon gestritten, weil Erik selbst bei den kleinsten Meinungsverschiedenheiten lieber gleich vor seiner Mutter kapitulierte, als sich einer mühsamen Diskussion auszusetzen. Er tat alles, um Renate bloß nicht vor den Kopf zu stoßen oder sie in irgendeiner Weise zu brüskieren.
Lisa fiel wieder die Mütze ein, die Erik selbst im pubertären Alter noch tragen musste und die er sich vom Kopf riss, sobald er aus dem Haus gegangen war und seine Mutter ihn nicht mehr kontrollieren konnte.
Wie tragisch diese eigentlich zum Schmunzeln anregende Geschichte doch war, dachte Lisa. Denn mit diesem verdammten Helm hatte Erik im Grunde nichts anderes getan. Obwohl er als Arzt nur allzu gut wusste, wie gefährlich das Fahren auf seinem Rennrad und Mountainbike ohne Kopfschutz war, missachtete er diese Tatsache allein aus Trotz und vielleicht sogar bloß, um ihr eins auszuwischen.
Vielleicht wäre das Tragen des Helms für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen, wenn sie ihn nur nicht immer dazu gedrängt hätte, dachte Lisa voller Reue und seufzte tief.
Schon wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen, doch dieses Mal gelang es ihr, der Vernunft den Vorrang zu geben. Überhaupt sah sie seit dem Gespräch mit Lenny gestern Abend einiges sehr viel klarer. Er hatte ihr deutlich vor Augen geführt, was es heißt, für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen, statt sich zum Opfer anderer zu machen. Auch wenn es ihr widerstrebte, dass ihr Bruder manchmal so oberschlau daherredete, war er im Grunde der Einzige, der schonungslos ehrlich zu ihr war. Offenbar hatte Agnes durchaus einen guten Einfluss auf ihn. Denn früher war er viel verschlossener gewesen und hatte eine ähnlich ablehnende Haltung gegenüber so einem Psycho-Gequatsche wie sie selbst.
Lisa hielt einen Moment lang inne. Eigentlich empfand sie sich immer als offen und flexibel. Auch reflektierte sie gern über ihre eigene Entwicklung sowie die Probleme anderer. Aber vielleicht hatte Lenny wirklich recht – vielleicht war
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