Was ich dir noch sagen will
berichteten sich gegenseitig von Erlebnissen, die zweifelsfrei belegten, dass Erik eine Art Risiko-Gen in sich tragen musste. Renate war der Meinung, das konnte er nur von seinem Vater geerbt haben, der bei dem Versuch ums Leben gekommen war, ein älteres Ehepaar bei einem Brand aus dem benachbarten Wohnhaus zu retten.
Lisa erinnerte hingegen an den letzten Besuch bei Hagenbeck anlässlich des vierten Geburtstages von Emi. Wie eine kleine Familie waren sie zu dritt durch den Zoo geschlendert und hatten Emi dabei zugesehen, wie sie sich über die lustigen Pinguine freute, für die sie kurzerhand die niedliche Bezeichnung «Pingihühner» erfand. Später hatten sie am Gehege der Bären gestanden, wo Erik der kleinen Emi unbedingt ihren Wunsch nach einem schönen Foto erfüllen wollte. Dafür kletterte er extra auf einen hohen Felsvorsprung. Und gerade als Lisa dachte, was für ein schlechtes Vorbild er dabei doch abgab, rutschte er plötzlich ab und verstauchte sich seinen linken Knöchel. Damit war nicht nur der Tag im Eimer, sondern auch die Stimmung der folgenden Wochen, weil Erik nun mal ziemlich unausstehlich war, wenn er keinen Sport treiben konnte.
Ohne es laut auszusprechen, hatte Lisa das Gefühl, dass auch Renate ahnte, wie schwierig die nächste Zeit trotz der guten Prognose werden würde.
Nun, da Lisa ihre kleine Nichte erwähnt hatte, erkundigte sich Renate höflich nach Emi und ihren Eltern. Doch Lisa hatte einfach keine Kraft, ihr von dem verlorenen Kind zu erzählen, und noch weniger davon, dass sie mit Erik auch deswegen so aneinandergeraten war. Also gab sie eine ausweichende Antwort und verfiel dann in Schweigen.
Nach einiger Zeit räusperte sich Renate und unterbrach das monotone Surren der Geräte. «Lisa, du musst darauf nicht antworten, wenn du nicht möchtest, aber …»
«Ja?», fragte Lisa und sah zu ihrer Schwiegermutter rüber.
«Möchte Erik wirklich kein eigenes Kind?»
Renate war die Frage ganz offensichtlich unangenehm, und Lisa glaubte ihr ansehen zu können, wie groß ihre Angst vor einer ehrlichen Antwort war.
«Genau darüber haben wir an Neujahr gestritten», sagte Lisa traurig und erhob sich, um ein paar Schritte im Raum auf und ab zu gehen.
Gerade wenn sie sich an solche Erlebnisse wie den Zoobesuch erinnerte, konnte sie sich kaum zerrissener fühlen. Einerseits sah sie in Erik trotz seiner albernen Spielereien den perfekten Familienvater, der mit einem eigenen Kind sicher mindestens genauso aufmerksam und liebevoll umgehen würde wie mit Emi. Andererseits überkam Lisa dann wieder das überwältigende Gefühl der Wehmut und Ohnmacht, da sie einen Mann liebte, der offenbar innerlich so getrieben war – weg von Familie und weg von einem normalen Leben, wie Lisa es aus ihrem Elternhaus kannte.
Sie deutete mit dem Kopf zu Erik und bemühte sich tapfer um ein Lächeln, als sie leise hinzufügte: «Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Aber ich weiß jetzt, dass ich es akzeptieren kann, wenn er keine Familie will.»
Renate atmete tief durch und kämpfte mit den Tränen. Es schien ihr peinlich zu sein, denn mit nervösen Bewegungen schaute sie auf ihre Uhr und erhob sich kurz darauf von ihrem Platz. «Ich glaube, es wird langsam Zeit für mich.»
«Ja, ist gut.» Obwohl Lisa noch gerne in Eriks Nähe geblieben wäre, bot sie ihrer Schwiegermutter an, sie mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Der Vorschlag kam von Herzen. Renate zögerte, das Angebot anzunehmen. Doch als Lisa erklärte, sie könne später ja wieder ins Krankenhaus zurückkommen, war sie einverstanden.
«Ich schreibe ihm lediglich noch schnell eine Nachricht», sagte sie, woraufhin Renate ihr verständnisvoll zuzwinkerte, ohne dass es Lisa unangenehm war.
Während der Fahrt Richtung Norden herrschte im Auto eine unangenehme Stille, sodass Lisa sich beim Halten an einer roten Ampel gezwungen fühlte, eine Bemerkung über den Himmel zu machen, dessen Wolkendecke seit Tagen das erste Mal wieder ein paar Sonnenstrahlen durchließ.
Völlig unvermittelt seufzte Renate plötzlich und sagte: «Ach, Lisa, ich hab so viel falsch gemacht.»
Lisa wusste gar nicht, wie ihr geschah, und noch weniger, was sie darauf erwidern sollte. «Wie meinst du das?», fragte sie vorsichtig und fuhr wieder an, als sich die Autoschlange vor ihr in Bewegung setzte.
«Ach, weißt du, ich hab das Gefühl, der Junge quält sich immer so mit allem. Dabei war es so ein Segen, dass er dich getroffen hat.»
«Aber ohne mich würde er
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