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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht. Sie ist keine, die sich für Leute an den Rändern interessiert, sie steht immer im Mittelpunkt, und sie weiß nichts von mir, oder? Sie kann mich hier nicht erwarten.
    Trotzdem habe ich das Gefühl, auffällig zu sein, schuldig, fremd. Dennoch bleibe ich lange, ich schlendere durch den ganzen Laden. Er ist angsteinflößend, mit so vielen Büchern. Ich scheine immer vor Büchern stehen zu bleiben, die den Lesern verschiedene Wege aufzeigen, um glücklich zu sein oder zumindest friedlich. Sie machen sich keine Vorstellung – nun ja, vielleicht haben Sie ja eine –, wie viele Bücher dieser Sorte es gibt. Ich bin nicht hochmütig. Ich denke, ich sollte sie lesen. Oder wenigstens einige davon. Aber ich kann nichts weiter tun, als sie benommen anzustarren. Andere Bücher beschäftigen sich mit Magie, es gibt tatsächlich hunderte von Büchern über Hexen, Zaubersprüche, Hellsehen, Rituale, alle möglichen Zauberkunststücke und Wunder. Diese Bücher kommen mir alle gleich vor – die über Glück und Frieden und die über Magie und Wunder –, sie scheinen überhaupt keine voneinander getrennten Bücher zu sein, deshalb kann ich sie nicht anfassen. Sie fließen alle zusammen im Laden herum wie ein vielfarbiger, wundersamer Strom oder ein breiter Fluss, und ich kann ebenso wenig begreifen, was in ihnen steht, wie ich unter Wasser atmen kann.
    Ich komme Tag für Tag. Ich kaufe ein paar Taschenbücher. Es muss denen so vorkommen, als schaute ich mich jedes Mal stundenlang um. Einmal sieht sie mich an und lächelt, aber es ist nur das rasche, blinde Lächeln, das sie für Kunden hat, ich höre, wie sie mit den Verkäuferinnen redet, lacht, mit jemandem am Telefon eine scherzhafte, auch ernste Fehde austrägt, für ihren Tee Honig verlangt, mit gespielter Empörung Kekse zurückweist. Ich höre, wie sie erfolgreich, manchmal charmant die Kunden gängelt. Ich kann mir vorstellen, ihre Freundin zu werden, ihren vertraulichen Geständnissen zu lauschen. Ich schäme mich solcher Gedanken. Ich empfinde in ihrer Gegenwart Neid, auch einen fragwürdigen Triumph, dazu diese kindische, verzweifelte Neugier; im Nachhinein schäme ich mich all dessen.
    Ich komme abends – das Geschäft ist bis neun geöffnet –, aber sie ist meistens nicht da. Eines Abends komme ich, und sie ist da, ganz allein. Niemand sonst ist im Laden. Sie geht ins Hinterzimmer und hat etwas in der Hand, als sie zurückkommt, direkt auf mich zu.
    »Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind.«
    Sie schaut mir gerade ins Gesicht. Sie muss das Kinn recken, so viel kleiner ist sie als ich.
    »Uns ist aufgefallen, dass Sie sich hier herumdrücken. Anfangs dachte ich, Sie sind eine Ladendiebin. Ich habe allen gesagt, sie sollen ein Auge auf Sie haben. Aber Sie sind keine Ladendiebin, nicht?«
    »Nein.«
    Sie gibt mir, was sie in der Hand hat, eine braune Tüte voller Papiere.
    »Er ist tot.« Sie lächelt mir zu, wie eine Lehrerin es tun würde, die einen in der Schule beim Schlimmsten ertappt hat. »Deshalb haben Sie nichts mehr von ihm gehört. Er ist im März gestorben. Er hatte einen Herzanfall, zu Hause an seinem Schreibtisch. Ich habe ihn gefunden, als ich zur Abendbrotzeit nach Hause kam.«
    Ich kann nicht und darf nicht mit ihr sprechen.
    »Sollte ich sagen, dass es mir leidtut, Ihnen das mitzuteilen? Es tut mir nicht leid. Was Sie fühlen, ist mir nicht wichtig. Überhaupt nicht. Ich möchte Sie hier nicht mehr sehen. Adieu.«
    Ich verlasse das Geschäft, ohne ein weiteres Wort zu ihr zu sagen.
    In meiner Wohnung mache ich die Tüte auf und nehme die Briefe heraus. Es sind tatsächlich Briefe, ohne die Umschläge. Ich wusste es, ich wusste, ich würde meine Briefe finden. Ich will sie nicht lesen, ich habe Angst davor, sie zu lesen, ich glaube, ich werde sie wegpacken. Doch dann fällt mir auf, dass die Handschrift nicht meine ist. Ich fange an zu lesen. Das sind nicht meine Briefe, die sind nicht von mir geschrieben worden. In Panik überfliege ich jeden einzelnen und lese die Unterschrift. Patricia. Pat. P . Ich fange von vorn an und lese sie sorgfältig, einen nach dem anderen.
    Mein Herzliebster,
    Du hast mich so glücklich gemacht. Ich bin mit Samantha in den Park gegangen, und es war wunderschön. Ich habe sie auf der Schaukel angeschubst und ihr auf der Rutsche zugesehen und dachte, ich werde diesen Park bis in alle Ewigkeit lieben müssen, weil ich hierhin gegangen bin, als ich so glücklich war und nachdem ich mit Dir zusammen war

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