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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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aber undefinierbaren und nicht endgültigen! – Makels in ihnen selbst. Und immer weiter in dieser Tour, die heutzutage alle auswendig lernen wie ein leichtes Lied. Währenddessen ist mein Herz zersprungen, wie das Herz in einem anderen Lied, es ist trocken und rissig wie ein kahles, von Rinnen zerfurchtes Stück Land. Ich weine mit Martha T. und Emily R. und frage mich, wie sie es nur geschafft haben, sich davon zu heilen. Mit Makramee? Mit tiefem Atmen? Eine Freundin – ja, natürlich eine Frau – hat mir mal gesagt, da Schmerz nur möglich sei, wenn man in die Vergangenheit zurück- oder in die Zukunft vorausschaue, habe sie das ganze Problem beseitigt, indem sie jeden Augenblick für sich erlebe; jeder Augenblick, sagte sie, sei erfüllt von völliger Stille. Ich habe das probiert, ich bin bereit, alles zu probieren, aber ich verstehe nicht, wie es funktioniert.
    Ich habe einen Stadtplan gekauft. Ich habe deine Straße gefunden, den Block, in dem dein Haus steht. Es ist nicht sehr weit von meinem Appartement. Etwa zehn Querstraßen weit zu laufen. Ich gehe noch nicht dorthin. Ich laufe, bis ich ein oder zwei Blocks davon entfernt bin, dann biege ich ab. Du wolltest nie, dass ich dieses Haus sehe. (Die Wohnungen, in denen ich lebe, sind das genaue Gegenteil; ich schmücke sie und warte darauf, dass sie zum Leben erwachen, wenn du mich besuchst.) Jetzt kann ich es sehen, wenn ich möchte. Ich kann auf der anderen Straßenseite daran vorbeilaufen, mit klopfendem Herzen, nur fähig, ein oder zwei Mal einen Blick darauf zu werfen, mit wachsendem Mut kann ich dann langsam gehen. Die Abenddämmerung ist die Zeit, die ich mir aussuchen würde, um nicht weit von den geöffneten Fenstern vorbeizuschlendern, nach Musik oder Stimmen zu horchen. Um mir das real vorzustellen, ein reales Haus, in dem Menschen Geschirr abwaschen und verschlafen. Abends, wenn sie die Vorhänge nicht zuzieht, kann ich in deine Zimmer schauen. Sind die Bilder deine Wahl oder ihre? Weder noch. Beides. Diese Entdeckungen bereiten mir die üblichen Schmerzen.
    Einmal las ich in einer Zeitschrift – es kann eine der Zeitschriften gewesen sein, für die du gearbeitet hast – eine Geschichte, die wahre Geschichte einer Frau, die ihre beiden kleinen Töchter bei einem Autounfall verloren hatte, und jeden Tag, wenn die anderen Kinder aus der Schule nach Hause kamen, ging sie hinaus und lief durch die Straßen, als erwartete sie, dass ihre Töchter ihr entgegenkamen. Aber sie ging nie bis zur Schule, sie schaute nie in die leeren Klassenzimmer, das konnte sie nicht riskieren.
    Ich gehe in den Laden deiner Frau, das kann ich tun. Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich schlage die Buchhandlungen in den gelben Seiten des Telefonbuchs nach. Barbaras Buchmarkt, das muss er sein. Vom Namen her erwarte ich etwas Verklemmtes und Altmodisches; ich bin überrascht, wie groß, hell, gut ausgestattet und großstädtisch er ist. Kein Mittelalter- oder Tudor-Chichi; überhaupt kein Chichi. Dies ist ein solides, ganzjährig geöffnetes Geschäft, keine Touristenfalle.
    Ich erkenne sie sofort, obwohl sie sich verändert hat. Ihre Haare sind grau, grauer als meine, zu einem Dutt zusammengebunden. Die Gesichtszüge weniger scharf, als sie waren, kein Make-up, blasser Teint und immer noch dieses Aufblitzen lebhafter Anziehungskraft; ihr vibrierender, witziger, nervöser Stil. Sie trägt einen ausgeblichenen violetten Kittel mit Streifen indianischer Stickerei. Sie bewegt sich steif, da sie wieder gehen lernen musste, nachdem der Meniskus in einem Knie entfernt wurde. Und sie hat zugenommen, wie du gesagt hast; sie ist eine füllige Frau in mittleren Jahren.
    Sie ist aus dem hinteren Teil des Ladens mit zwei großen Kunstbänden gekommen. Sie geht hinter den Ladentisch, legt sie auf ein Bord und spricht mit der Verkäuferin, als setzte sie ein zuvor begonnenes Gespräch fort.
    »Also ich weiß nicht, wie … per Rechnung … rufen Sie sie an und sagen Sie denen, so wird das hier nicht gehandhabt … der ganze verdammte Packen muss zurückgegeben werden.«
    Ich erinnere mich an ihre Stimme, dieselbe Stimme, die ich vor so langer Zeit auf ein oder zwei Partys hörte – eine klare, herausfordernde Stimme, die am besten bei einem bestimmten Grad von Verärgerung zur Geltung zu kommen scheint, eine Stimme, die sich hervortut bei Sätzen wie Mein Gott, was denken diese Idioten sich eigentlich! . Angenommen, sie erkennt meine Stimme oder mein Gesicht? Aber das glaube ich

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